Valeri Brainin

 

INDUSTRIE UND KULTUR[1]

 

 

Und allgemein bekannt sind ja jene Berichte, Märchen und Sagen aus den Jugendzeiten aller Kulturen, welche der Musik, weit über alles Künstlerische hinaus, eine Seelen- und Völkerbeherrschende Gewalt zuschreiben, sie zu einem geheimen Regenten oder einem Gesetzbuch der Menschen und ihrer Staaten machen. (...) Im sagenhaften China „der alten Könige“, erinnern wir uns, war der Musik im Staats- und Hofleben eine führende Rolle zuteil; man identifizierte geradezu den Wohlstand der Musik mit dem der Kultur und Moral, ja des Reiches (...). Verfiel die Musik, so war das ein sicheres Zeichen für den Niedergang der Regierung und des Staates.

 

(Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel)

 

Die Beziehung zwischen der Kultur und Wirtschaftsproduktion bestand schon immer, doch war dies eine einseitige Beziehung. Entweder war das Schaffen von Kulturobjekten (z.B. Architektur) oder ihre Verbreitung (z.B. Literatur) ohne einen bestimmten Stand der Technologie nicht möglich. Gleichzeitig entwickelten sich die Technologien, unabhängig von der Kultur, weiter. Der Ingenieur und Erfinder mit Namen Leonardo da Vinci war da eine Ausnahme. Die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts schuf aber einen technokratischen Adel, der sich vom Geburtsadel vor allem durch das Fehlen eines kulturellen Horizonts unterschied, der hundert Jahre früher den Geburtsadel zum Hauptauftraggeber der künstlerischen Produktion gemacht hat. Der Erfinder des Dynamits, der Ingenieur Alfred Nobel, schuf einen Präzedenzfall, der allerdings nicht ausschlaggebend für das 20. Jahrhundert war. Der Literaturnobelpreis provoziert das Erscheinen neuer Meisterwerke nicht. Ein Teil der Nobelpreisträger ist in Lethes Strom eingetaucht - sogar einem erfahrenen Leser sind viele Namen der Preisträger nicht geläufig. Gäbe es andererseits keinen Literaturnobelpreis, so würden dennoch weitere Meisterwerke geschaffen werden.

 

Heute sind wir Zeugen einer neuen technischen Revolution. Eine der noch wenig wahrgenommen Folgen dieser Revolution ist der Einfluß der Kultur auf die Wirtschaft, ein Einfluß, der unentbehrlich für die Wirtschaft ist und zwar aus „vitalen Indikationen“, wie ein Arzt es sagen würde. Die Rede ist von der Entwicklung der sogenannten hohen Technologien (high technology, High-Tech) von der Mikro- und Nanoelektronik, der Computertechnik, der Mechatronik, der Biomedizin, Gentechnik u.a. Die rapide Entwicklung dieser Branchen, die Schnellebigkeit dieser Erzeugnisse, die immer wachsende Nachfrage und damit zusammenhängend die Notwendigkeit der ständigen Erneuerung - all das schafft in natürlicher Weise das Bedürfnis nach neuen Arbeitsplätzen, was an und für sich doch eine der wichtigsten sozialen Aufgaben der Gegenwart ist. Aber hochentwickelte Technologien fordern auch „hochentwickelte“ Spezialisten. In diesem Zusammenhang entsteht eine Reihe auf den ersten Blick nicht sichtbarer aber dennoch aktueller Probleme.

 

Das wirtschaftliche Problem:

Gut ausgebildete Fachkräfte wollen nicht in überfüllten Stahlbeton-Bienenstöcken arbeiten und leben und ziehen nicht nur ein ästhetisches Design der Umwelt, sondern auch eine hochentwickelte kulturelle Infrastruktur vor.

Das ethische Problem:

Hochentwickelte Technologien können nicht nur zum Nutzen sondern auch zum Schaden eingesetzt werden. In den Händen derer, die an den Schaltknöpfen dieser Technologien sitzen, befindet sich eine bedrohliche Waffe, die auch dann „losgehen“ kann, wenn die besten Vorsätze vorhanden sind. Das kann dann geschehen, wenn der „Beherrscher“ dieser „Waffe“ keine zuverlässigen ethischen Bremsen in sich hat, wenn er keine humanistischen Prioritäten setzt, nur beruflich professionell orientiert ist und nicht den Platz seiner Branche im Zusammenhang allgemein menschlicher Werte sieht, mit einem Wort nicht sehr kultiviert ist.[2]

 

Das letzte Argument klingt vielleicht für einige nicht überzeugend, die Gefahr an den Haaren herbeigezogen, die Folgerungen fern liegend und nicht offensichtlich. Wer aber nur an den momentanen Profit denkt, wird unbedingt strategisch verlieren.

 

Bismarck sagte, daß den französisch-preußischen Krieg der preußische Gymnasiallehrer gewonnen hat. Fakt ist, daß die Investitionen in das System der gymnasialen Erziehung keinen offensichtlichen finanziellen oder militärisch nützlichen Gewinn erzielt, aber ein gebildeter Soldat ist initiativreicher, kann besser den Grad eines vernünftigen Risikos einschätzen und findet öfter die optimale Lösung wenn er zwischen dem Überleben und dem Erfüllen der Kampfaufgabe steht. Die gleichen Vorteile hat auch ein kultivierter Arbeitnehmer. Je höher die berufliche Qualifikation so eines Arbeitnehmers ist und je mehr Verantwortung er tragen muß, desto größer ist die gegenseitige Abhängigkeit zwischen der Effektivität seiner Arbeit und seinem kulturellen Niveau und um so höher muß dieses Niveau sein. Daraus folgt, daß ein Fachmann auf dem Gebiet der hochentwickelten Technologien auch ein gebildeter und hochkultivierter Mensch sein muß.

 

Man sagt, daß Niveau Niveau hervorbringt. Die Sicherstellung eines „guten mittleren“ Niveaus hindert nicht das Erscheinen von Menschen mit glänzendem kulturellen Niveau, aber es fördert dieses Erscheinen auch nicht. Nur die Gründung elitärer Schulen, die gezielte Suche sowohl nach Lehrern als auch nach Schülern solcher Schulen, der Vorrang kreativer Arbeit vor mechanischer Wissensanhäufung und von hier ausgehend auch die Bevorzugung kreativer Fächer, kann den Prozeß der Selbsterzeugung provozieren, dann wird Niveau tatsächlich Niveau hervorbringen. Hier ein mir bekanntes Beispiel: Die sowjetischen Musikschulen für besonders begabte Kinder. Die großen Lehrer dieser Schulen gehören längst der Vergangenheit an, längst unterrichten hier größtenteils einfach gute Spezialisten, welche es auch im Westen zur Genüge gibt, aber das einmal eingeführte Niveau hört nicht auf, neues Niveau hervorzubringen. Die mit einem politischen Ziel gegründeten Schulen - „den Vorteil des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus“ zu beweisen - haben unabhängig vom Ziel tatsächlich den Vorteil eines zielgerichteten Kulturaufbaus gegenüber dem freien Fluß bewiesen.

 

Die Angst des demokratischen Spießers vor jeglicher Art Elitarismus ist bekannt. Läßt man den selbstverständlichen Neid und die Minderwertigkeitskomplexe eines Spießbürgers beiseite, so bleiben doch berechtigte Argumente übrig. Vor allem ist Elitarismus schon vom Wortlaut her nicht demokratisch. Zum Beispiel setzt die elitäre Erziehung von Kindern (Ballett, Musik, Mathematik usw.) eine frühe professionelle Orientierung voraus und nimmt den Kindern eine frei Wahl. Elitäre Erziehung setzt eine besonders intensive Ausbildung voraus, was unter anderem auch mit Vergewaltigung assoziiert wird. Außerdem wird elitäre Erziehung mit totalitären Regimen in Verbindung gebracht, insbesondere mit dem Hitler- und Stalinregime.

 

In all diesem liegt eine gewisse Wahrheit. Indem aber sich die demokratische Gesellschaft gegen elitäre Erziehung wehrt, riskiert sie das Kind mit dem Bade auszuschütten.

 

Ja, Elitarismus ist undemokratisch, aber in diesem Fall ist Gott selbst undemokratisch, indem er Genial- und Wenigbegabte geschaffen hat. Die wichtigste Eigenschaft Gottes ist die Fähigkeit, etwas aus dem Nichts zu schaffen, und wenn er den Menschen nach seinem Ebenbilde schuf, dann ist wohl nicht das Gesicht und der Aufrechte Gang gemeint, sondern die Fähigkeit, aus dem Nichts zu Schaffen, aus Worten, Klängen, Farben, Zahlen und Ideen. Einigen Glücklichen ist so eine Fähigkeit besonders großzügig zuteil geworden. Elitäre Erziehung gibt diesen Auserwählten die Möglichkeit, sich ziemlich vollständig zu verwirklichen. Sie sollen das Niveau schaffen, das sich später selbst reproduziert, wenn dann auch der weniger begabte nachzieht und den Wunsch verspürt, sich nach seinen Möglichkeiten zu verwirklichen.

 

Auch ist es Wahr, daß frühe professionelle Erziehung dem Kind die Möglichkeit zur freien Wahl nimmt, aber es gibt Bereiche im menschlichen Wirken, wo höchste Errungenschaften nur durch frühe Entwicklung unumgänglicher Routine möglich ist, und wenn wir die Notwendigkeit dieser hohen Errungenschaften für die allgemeine menschliche Kultur zugeben, dann müssen wir auch die Notwendigkeit der frühen Professionalisierung zugeben. Indem wir ein Kind professionell orientieren, nehmen wir ihm das Recht der freien Willensäußerung, aber wenn wir ein hochbegabtes Kind nicht orientieren, nehmen wir ihm ein anderes unveräußerliches Recht, nämlich das Recht auf volle Realisierung der göttlichen Gabe. Es versteht sich, daß dies kein Argument für einen Ungläubigen ist. Das Problem liegt nicht darin, ob man orientiert oder nicht orientiert, sondern darin, zu entscheiden, ob man dieses konkrete Kind orientiert oder nicht orientiert. Letztendlich ist es Heuchelei zu behaupten, daß ein Kind das hypothetische Recht auf frei Willensäußerung realisiert. Die wichtigsten Fragen seines Lebens werden so oder so von seinen Eltern oder von der Gesellschaft gelöst. Das heißt, daß die Aufgabe aus dem Gebiet der Ethik in das Gebiet der Methodik übergehen muß: Wie kann man es einrichten, daß die Fehler bei der Bestimmung der Begabung minimiert, nach Möglichkeit gänzlich annulliert werden. Diese Aufgabe ist lösbar.

 

Intensive Erziehung als Zwangserziehung hält der näheren Kritik nicht Stand. Ja, Zwangserziehung, wir fürchten dieses Wort nicht. Daniel Barenboim sagte im Fernsehfilm über Wunderkinder, wie dankbar er seinen Eltern ist, die ihn in seiner Kindheit zum Klavierüben angehalten haben. Seine Erzählung beendet er mit den Worten: „Es ist noch kein Kind geboren, das das freiwillig machen würde“. Vielleicht sind seine Worte polemische Übertreibung. In der Musikgeschichte sind Fälle bekannt, die diese Regel nicht stützen (z.B. Bach). Das Problem jedoch liegt gar nicht darin, ob der frühe musikalische Unterricht zwanghaft ist oder nicht, sondern darin, daß nicht zwanghafte Erziehung überhaupt nicht existiert. Viele lernen freiwillig, doch niemand lernt freiwillig alles, was die Gesellschaft für Notwendig hält.

 

Was die totalitären Regimes betrifft, so ist das eine interessante Angelegenheit für sich. Die Aufmerksamkeit, die die UdSSR der Kultur entgegengebracht hat, ist allgemein bekannt. „Die Partei und Führung“ hatte die Erziehung einer Armee gehorsamer Intellektueller zum Ziel. In gewisser Weise ist das auch gelungen, aber nur in gewisser. Die Kultur ist ein Organismus, dessen Entwicklung nicht von den Zielen abhängt, die von Außen gestellt werden. Der sowjetische Intellektuelle hat in sich die Fähigkeit zur Gedankenspaltung entwickelt, eine Art sozialer Schizophrenie. Es stimmt nicht, daß Schostakowitsch unaufrichtig war indem er den sozialistischen Auftrag erfüllte. Es ist unmöglich, ohne Begeisterung all diese (talentierten!) sinfonischen Gemälde wie „Widmung an den Oktober“, „An den 1. Mai“, „Das Jahr 1905“, „Das Jahr 1917 - In Erinnerung an Lenin“ und ähnliche zu schreiben. Aber von ihm sind auch völlig apolitische Sinfonien, Quartette und Instrumentalkonzerte geschaffen worden. Mit einer Seite seiner kreativen Persönlichkeit hat er aufrichtig das Regime verherrlicht, mit der anderen aber für die Ewigkeit geschaffen. Oder Pasternak, der, nicht weniger aufrichtig Stalin verherrlichend, sich wie ein freier Mensch aufführte, indem er das Manuskript des „Doktor Schiwago“ in den Westen vermittelte. Ähnliche Beispiele sind zahllos. Durch die Förderung der Kultur hat sich das Regime letztendlich selbst das Grab geschaufelt. Die Stabilität des Totalitarismus wird durch die Unwissenheit der Bevölkerung gewährleistet, oder anders gesagt, durch das Monopol auf Informationen. Indem es die Kultur fördert, bringt sich das Regime selbst um dieses Monopol. Bis zu den 80er Jahren hat sich in der sowjetischen Gesellschaft so eine „kritische kulturelle Masse“ angesammelt, daß eine Kettenreaktion stattfand, als deren Resultat sich die fast allgemeine Erkenntnis einstellte. Das, was vor ein paar Jahren noch als Offenbarung aufgefaßt wurde, erwies sich jetzt als Gemeinplatz. Und das Regime fiel. Man sagt, daß Gorbatschow zur „Perestroika“ von seine Frau bewegt wurde, die sich viele Bücher angelesen hat und sich in den Theaterkreisen der Hauptstadt bewegte. Wenn das auch nicht so ist, so bleibt doch die Tatsache, daß zum erstenmal in der Geschichte des sowjetischen Staates der Führer eine Gattin hatte, die im Prinzip fähig war, „sich in solchen Kreisen zu bewegen“.

 

Die Beziehungen des Hitlerregimes und der Kultur gestalteten sich anders. Die Nationalsozialisten haben frühzeitig die Gefahr, die von der Kultur ausging, gewittert. Die eben erst aufkommenden elitären Schulen wurden fast sofort wieder geschlossen. Einerseits forderte der Nazimythos die Bildung eines „vollkommenen Ariers“, anderseits wurde sehr bald offensichtlich, daß die elitären Schulen nolens volens Oppositionäre hervorbringen würden. Dem Mythos wurde die Praktik vorgezogen. In dieser Hinsicht hatte es der Nationalsozialismus leichter. Da das Regime nationalsozialistisch war, brauchte es sich nicht um die Meinung von Außen zu kümmern. Der Kommunismus aber ist seiner eigenen Mythologie auf den Leim gegangen. Das sowjetische Regime als internationalsozialistisches, konnte sich den Grad der Unverholenheit, den sich die Nazis erlaubt haben, nicht leisten. Aus diesem Grund hatten die Künstler im Naziregime nicht die Illusionen wie sie ihre sowjetischen Kollegen hatten und sind entweder geflohen oder haben geschwiegen. Und sogar die besten Beispiele des sogenannten nationalsozialistischen künstlerischen Schaffens sind nur mit den schlechtesten Beispielen des sowjetischen vergleichbar. Genauer gesagt fehlte in Deutschland zu der Zeit das Bessere und was man sowohl in Deutschland als auch in der UdSSR vergleichen konnte, war nur das Schlechteste.

 

Das Verhältnis des einen wie des anderen Regimes zur Kultur wird bildhaft durch die bekannte Aussage von Goebbels und die parodierte Fassung, die in einer sowjetischen Anekdote Breschnew zugerechnet wird, demonstriert: „Wenn ich das Wort ‘Kultur’ höre, greift meine Hand zur Pistole“ - „Wenn ich das Wort ‘Kultur’ höre, greift meine Hand zum Wörterbuch“. Also ist die Verbindung des gezielten Kulturaufbaus mit dem Totalitarismus nicht so gefährlich, wie es den Anschein hat. Indem der Westen die osteuropäische Erfahrung übernimmt, riskiert er nicht, die Demokratie zu verlieren. Je kultivierter der Normalbürger ist, desto weniger ist er Spießer, und nur eine wenig kultivierte Masse ist imstande, in einem demokratischen Staat freiwillig einen Hitler zu wählen.

 

So, wie die hohen Technologien die Spitze der Pyramide, deren Name „Technologie“ ist, bilden, so hat die Pyramide mit dem Namen Kultur eine eigene Spitze. Die Rede ist nichteinmal vom klassisch-kulturellen Erbgut als Museumswert. Das klassische Erbe war zum Zeitpunkt seiner Entstehung sehr aktuell, es rief nicht nur ein großes öffentliches Interesse hervor, sondern auch verbissene Streitgespräche: erinnern wir uns an Beaumarchais, der zwar verboten, aber in Abschriften allbekannt war, oder an die Chöre von Verdi, die am Tag nach der Premiere zu Volksliedern wurden, die Feindseligkeiten zwischen den Anhängern von Wagner und Brahms, die Gerichtsprozesse gegen Baudelaire und Flaubert, „der Salon der Unabhängigen“, die Entdeckung der Schriftsteller Tolstoi und Dostojewski im Westen, die Demonstration bei der Premiere des „Hernani“ von Hugo, die Eklats bei den Premieren von Strawinsky und Schönberg, die Schlangen zur „Guernica“, den Streit zwischen Stokowski und Toscanini um das Recht der Erstaufführung der „Leningrader Sinfonie“ und die millionenfachen Auflagen dieser Schallplatte.

 

Man kann den Autoren vorwerfen, daß der größte Teil der angeführten Beispiele von der politischen Engagiertheit der Kunst zeugt. Zugegeben, aber es ist interessant, daß diesen kulturellen Ereignissen, nachdem sie ihre politische Aktualität verloren haben, ihre Vitalität erhalten blieb und sie heute als klassisch empfunden werden. Das Geheimnis dieser Lebendigkeit ist Einfach: diese Kunst war schon zu Lebzeiten der Schöpfer klassisch und diese Klassik war nie veraltet.

 

Heute, zwei Jahre vor Beginn des neuen Jahrtausends, müssen wir ehrlich bekennen, daß wir uns in einer neuen, nämlich kritischen kulturellen Situation befinden. Ja, in den kulturellen Alltagsgebrauch fließt die Kunst aller Zeiten und Völker hinein, aber das ist eher Verdienst der Massenmedien, als das Resultat gehobener kultureller Bedürfnisse. Der heutige Kulturkonsument gebraucht sie nicht aus einer inneren Notwendigkeit heraus, sondern teils aus Neugier, teils aus Prestigegründen. Im Grunde ist ihm die Kultur gleichgültig. Die kulturelle Landschaft stellt ein gigantisches Museum dar. Menschen sind bereit, tausende Kilometer zu fliegen, um einen „in Windeln gewickelten“ Reichstag zu sehen. Diese Kunst ist mit den ägyptischen Pyramiden verwandt. Die nie zuvor dagewesene Informationsfülle führte dazu, daß die Aufnahmefähigkeit eines Normalverbrauchers dem rasanten Entwicklungstempo der Sprache dieser oder jener Kunst nicht nachkommt. Was die moderne Kunst betrifft, so hat der Normalverbraucher keine eigene Werteskala. Noch vor dreißig-vierzig Jahren wäre seine Beurteilung richtig oder falsch, scharfsinnig oder absurd, aber er hielte sie für seine eigene. Er vertraute seinem Urteil. Mochte er sich langweilen oder ineressieren, aber er wußte, warum er sich langweilte oder interessierte. Heute langweilt er sich aus Nichtverständnis und obwohl er weiß, daß er nichts versteht, kann er es aus Prestigegründen nicht zugeben.

 

Diese Situation öffnet den kulturellen Scharlatanen eine unbegrenzte Möglichkeit, den orientierungslosen Konsumenten an der Nase herumzuführen. Der Titel „Künstler“ hat in der Gesellschaft einen Status, der den realen Umständen nicht entspricht. In ihrer Mehrheit sind diejenigen, die heute die Bezeichnung Künstler beanspruchen, Rentiers, die auf Kosten eines nicht von ihnen geschaffenen Kapitals leben. Der Verbraucher ohne eigene Urteilskraft auf der einen Seite und der Kunstscharlatan auf der anderen bilden einen Teufelskreis, den zu durchdringen nur gezielte Bildungsbemühungen fähig sind. Um aber ein Problem zu lösen, muß man es vor allem erkennen. Wir versuchen es, anhand eines uns naheliegenden Beispiels zu demonstrieren.

 

Wenden wir uns gedanklich dem Goldenen Zeitalter der Musik zu, dem 18. Jahrhundert. Mozart konnte es sich damals erlauben zu sagen, daß seine Musik gleichermaßen interessant sei für einfache Menschen wie auch für Kenner. Und das liegt nicht an Mozart; lediglich seine Worte sind uns bekannt und für uns bedeutsam. Dasselbe konnte vollauf zu Recht auch ein weniger bekannter Musiker behaupten, zum Beispiel Wagenseil. Die Komponisten des 18. Jahrhunderts beeinflußte eine einmalige, nie zuvor dagewesene und nie danach aufgetretene Situation. Nicht umsonst sagt Hermann Hesse in seinem Roman ‘Das Glasperlenspiel’, daß man für Musik eigentlich nur das halten kann, was bis zum Jahre 1800 geschrieben worden ist. Zu dieser Situation führten zwei historische Prozesse, die sich unabhängig voneinander entwickelt haben, und deren Bewegungslinien sich auf glückliche Weise zu Zeiten Haydns und Mozarts überschnitten haben. Erstens handelt es sich dabei um die Entwicklung der sozialen Beziehungen an sich, zweitens um das organische Leben der Musiksprache.

 

Man sagt, wer zahlt, bestellt auch die Musik. Will man eine grobe Periodisierung der Auftraggeber für Kunst aufstellen, so kann man sagen, daß vor dem 18. Jahrhundert die Kirche den Komponisten bezahlt hat, im 18. Jahrhundert der Hof, im 19. die Stadt und im 20. Jahrhundert jeder, der es nur wollte. Die Kirche hat sozusagen in höchstem Maße den Künstler engagiert. Aber das ist nur auf den ersten Blick so. Für den gläubigen Menschen blieb in diesem Engagement genügend Freiraum, weil die ‘Bestellung’ in der Regel seinen geistlichen Bedürfnissen entsprach. Komplizierter verhielt sich die Sache mit dem Auftrag seitens des Hofes. Hier gab es auch das direkte Engagement, dessen geistlicher Bestandteil bereits nicht mehr obligatorisch war. Dafür jedoch erwies sich die Aristokratie als der gebildetste Teil der Gesellschaft, und in ihr Bildungssystem fand eine auch nach heutigen Vorstellungen sehr solide musikalische Erziehung Eingang. Das Phänomen Mozarts jedoch bestand ausgerechnet darin, daß er der erste freie Künstler in der Geschichte der europäischen Musik war, und das nicht in irgendeinem philosophischen Sinne, sondern im allergewöhnlichsten, im alltäglichen Sinn. Als er auf seinen Herrn pfiff und unabhängig sein Brot verdienen wollte, da war das nicht nur einfach die stolze Geste eines unabhängigen Genies. Dies geschah zu einem historischen Zeitpunkt, dem Übergang von der aristokratischen Auftragskunst zur bürgerlichen. In dieser Zeit tauchte bereits eine Art Musikindustrie auf, aber ihr Hauptauftraggeber blieb einstweilen die Aristokratie, reich, musikalisch gebildet und hedonistisch orientiert. Nachdem er sie dann verdrängt hatte, konkurrierte der bürgerliche Hörer erfolgreich mit der Aristokratie in bezug auf gemeinsamen Reichtum, aber seine Ansprüche auf den kulturellen ‘Staffelstab’ brachen zwangsläufig zusammen aufgrund prinzipiell anderer Lebensorientierungen. Beginnend bei Beethoven orientiert sich die reine Sphäre der Instrumentalmusik mehr und mehr am bürgerlichen Hörer, indem sie ihm ‘Gehilfen’ anbietet, die aus außermusikalischen Assoziationen stammen.

 

„De la musique avant toute chose...“ (Nur um die Musik geht es...) - so beginnt Verlaine seine „Kunst der Poesie“, die ziemlich geringschätzig endet „Et tout lé reste est littérature“ (Alles übrige ist Literatur). Man muß annehmen, daß Verlaine allzu gekünstelte Schriftstellerei im Auge hatte. Und wenn schon derartige Schreiberei in der Poesie zum Reizthema werden konnte, wie mußte es dann erst der armen Musik ergehen?

 

In bezug auf die komplizierter werdende Musiksprache, von der zuvor die Rede ist, bedurfte es immer zahlreicher ‘Krücken’; und das konnte nicht endlos so weitergehen. In einer verhältnismäßig reich gewordenen Gesellschaft wird die Masse zum potentiellen Auftraggeber. Die zweischneidige Klinge der Sprache, die bis dato noch ausreichte für die Bedienung der ‘schlichten’ wie auch der elitären Musik, spaltet sich auf, verwandelt sich, wenn man so will, in eine Schlangenzunge (für die Giftigkeit der Metapher) oder in eine Schere, die unaufhörlich auseinanderzugleiten beginnt. Die Katastrophe entlädt sich bereits in unserer Zeit, in der Millionen Teenager zum kollektiven Auftraggeber werden. Die soziale Rolle der Walzer von Strauß und der jetzigen Machwerke der Popmusik ist ein und dieselbe, aber zwischen ihnen liegt eine geistige Kluft. Wir glauben nicht an eine demokratische Kultur. Die Musik der Massen mag ihre eigenen talentierten Vertreter haben, zumal man eine beliebige Sache, unabhängig von ihrer ethischen oder geistigen Bewertung, mit Talent beschreiben kann. Man kann eine neue Sorte Äpfel züchten oder ein Kaugummi erfinden. Beides läßt sich kauen. Kultur jedoch bedeutete in der lateinischen Sprache etwas Bearbeitetes; das aber ist in Massenproduktion nicht möglich. Kultur war und wird elitär bleiben, unabhängig davon, ob das einem gefällt oder nicht. Und dabei geht es nicht um die absolute Zahl ihrer Konsumenten, sondern um die Möglichkeit ihres veredelnden Einflusses auf die Gesellschaft im ganzen. Kehren wir nun zur Frage der musikalische Sprache zurück und dazu, was denn eigentlich im Prozeß seiner Entwicklung im 18. Jahrhundert geschehen ist.

 

Im Gespräch mit einem Menschen, der stottert, empfinden wir den dringlichen Wunsch, für ihn die Wortendungen auszusprechen. In einer Diskussion, in der wir unbestreitbare Argumente heraushören, beschleunigen wir den Partner durch Nicken und Zustimmung. Das, was wir dabei tun, nennt sich ‘Textprognose’. Die Orientierung auf die Vorhersage ist eine zwingende Voraussetzung für das Textverständnis. Bei der Rezeption eines unbekannten Textes kann es vorkommen, daß man sich in all seinen Prognosen irrt, aber ohne das Erfordernis vorherzuahnen, was dort hinter der ‘Biegung’ kommt, wird das Verständnis des Ganzen nicht zustande kommen. Verständlich ist auch, daß die Antizipation eines Textes ohne Kenntnis der Sprache unmöglich ist. Hier möchten wir zur Vermeidung von Langatmigkeit folgendes Bild vorstellen. Ein Text ist ein Schauspiel. Die sprachlichen Zeichen sind die Schauspieler. Hinter jedem Schauspieler ist ein bestimmter Rollentyp fixiert, und dieser Rollentyp bleibt auch in anderen Schauspielen erhalten. Der Rollentyp bestimmt die Rolle, aber nicht starr, sondern mit einem bekannten Maß an Freiheit. Die intuitive Kenntnis dieser Rollentypen bedeutet auch die Kenntnis der Sprache. Wenn wir einen unbekannten Text aufnehmen, dann holen wir gleichzeitig aus unserem Unterbewußtsein alle uns bekannten Texte hervor, in denen dieselben sprachlichen Zeichen in denselben Rollentypen aufgetreten sind.

 

Sobald die Wahrscheinlichkeit des Auftretens des einen oder anderen sprachlichen Zeichens zu hoch wird und die Aufnahme sich in bekanntem Maße automatisiert (das heißt, daß wir schon im Voraus wissen in welchem Zusammenhang mit anderen Zeichen das eine oder andere Zeichen auftreten wird) tritt das gemeinschaftliche Bedürfnis zur Senkung dieser Wahrscheinlichkeit auf. Dann tritt eine Periode der Aneignung neuen Sprachschatzes ein, wonach sich alles wiederholt. Dabei ergeben sich zwei Kurven. Die eine symbolisiert den Anspruch des Auditoriums, die andere den der Komponisten. Es kann sich zeigen, daß die Komponisten immer radikaler sind in ihrem Bestreben, die Sprache zu erneuern, als das sie wahrnehmende Auditorium. Das sind jedoch bereits Vorstellungen der neuen Zeit. Bach war beispielsweise zu Lebzeiten relativ unbekannt, weil er aus der Sicht des Auditoriums zu altmodisch war. Und so haben sich gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts diese zwei Kurven überschnitten, eine kurzfristige Etappe labilen Gleichgewichts gebildet, nach der die Zuhörerkurve unten blieb, die der Komponisten aber weiterhin nach oben kletterte. Zum Zurückbleiben der Zuhörerkurve trug auch die soziale Lage bei, die teils schon oben beschrieben wurde (Wechsel des Auftraggebers), teils sich folgendermaßen darstellt:

 

- die Ende des 18. Jahrhunderts aufgetretene Enttäuschung über die Ideale der Aufklärung;

- das Aufkommen der Romantik mit ihrer Hervorhebung des Individuellen;

- das kulturelle Erwachen neuer Regionen und folglich die revolutionäre Veränderung des „Wortschatzes“ der europäischen Kultur;

- die stets zunehmende Entfremdung, die Verringerung des Bedürfnisses nach sozialen Kontakten (unter anderem Aufgrund des ständig steigenden Wohlstandes und daraus folgend der persönlichen materiellen Unabhängigkeit), die persönliche Einsamkeit.

 

In Verbindung damit kann man auch folgende grobe Periodisierung dessen vornehmen, was mit der Musiksprache geschah:

 

- vor dem 19. Jahrhundert - eine gesamteuropäische Musiksprache und ihre nationalen Dialekte;

- 19. Jahrhundert - nationale Musiksprachen und ihre Dialekte in Form der Sprachen einzelner Komponisten;

- 20. Jahrhundert - individuelle Musiksprachen und ihre Dialekte in Form der Sprachen konkreter Werke.

 

Solange die Rede von einer einheitlichen Musiksprache war, konnte man auf ihr Begreifen hoffen durch die Bekanntschaft mit einem, wenn auch recht großen, so doch überschaubaren Berg an Texten. Schon für das 19. Jahrhundert wird das problematisch, für das 20. gar unmöglich. Wenn in der nächsten Generation nicht ein prinzipiell neuer Typ von Musikhörern auftaucht, so bedeutet das für die westliche Musikkultur das Ende. Und man sollte sich nicht verführen lassen durch die Auflagen von CDs, die Überfüllung von Konzertsälen, das Überangebot an Wettbewerben und Festivals. Das ist eine prunkvolle Agonie. Ein Teil der Hörer verbirgt sein Nichtverstehen der Musik vor sich selbst, ein Teil vor seiner Umgebung. Die Wiederkehr des Paradieses, das gegen Anfang des 19. Jahrhunderts verlorenging, ist unmöglich - nie mehr wird sich ein solches Zusammentreffen der Umstände wiederholen. Möglich ist etwas anderes: die Einführung eines speziellen Faches in das Bildungssystem, dessen Ziel die Rückkehr jener Hörerkultur ist, die auf natürlichem Wege schon nicht mehr zurückkehren kann. Wir schließen nicht aus, daß die sichtbare Hülle dieser Kultur sich noch relativ lange halten kann, aber ihr droht unausweichlich das Vakuum.

 

Wie sieht die musikalische Ausbildung der Kinder in der Praxis aus? Im westlichen Europa gibt es kein professionelles frühmusikalisches Ausbildungswesen und die allgemeine musikalische Erziehung sieht wie in den ehemaligen sozialistischen Ländern aus, das heißt in den normalen Schulen hat nicht das Fach selbst seinen Platz, sondern eine Art Übersicht und in den Musikschulen wird nur musiziert.

 

Das Kind lernt, ein Musikinstrument zu spielen, wobei man davon ausgeht, daß es auf diese Weise die Musik zu verstehen lernt. Wenn das nur so wäre! Diejenigen, die Gelegenheit hatten, in der Kindheit ‘auf Klavieren’ herumzuklimpern, so für die allgemeine Entwicklung, wie es heißt, die erinnern sich, daß ihnen das Musizieren ein, zwei und mit Mühe vielleicht auch drei Jahre Vergnügen bereitet. Dann wird es durch Widerwillen abgelöst. Was dabei vor sich geht, ist verständlich: die Beherrschung der Sprache bleibt hinter dem auszuführenden Repertoire zurück, und die rein motorische Tätigkeit ist allzu kompliziert und unmotiviert, um die ursprüngliche Freude weiterhin zu bereiten. Da ist es schon besser, Fußball zu spielen. Ohne Verständnis dafür, was die Musiksprache eigentlich ist, ohne einen prinzipiell neuen Zugang zur Aneignung der sprachlichen Zeichen wird man beliebig lange gegen eine Stahlbetonwand ankämpfen können, die sich vor einem aufgebaut hat.

 

Wenn die Spitze der technologischen Pyramide „High-Tech“ heißt, so könnte man die Spitze der kulturellen Pyramide vereinbarungsmäßig „Neue Klassik“ nennen. Dieser komplizierte Begriff enthält in sich nicht nur die Vorstellung der Erneuerung der Tradition, was bei einer oberflächlichen Wahrnehmung leicht herauszulesen ist. Neue Klassik, das sind kulturelle Erscheinungen, die in der Gegenwart entstanden sind, aber alle notwendigen Voraussetzungen enthalten um einen würdigen Platz in der Reihe der unvergänglichen, allgemeinmenschlichen Werte einzunehmen. Neue Klassik sind unter anderem Ausbildungssysteme, die sich auf das Beste was weltweit im pädagogischen Denken angesammelt wurde, stützen und sich gleichzeitig den schnell wechselnden Entdeckungen in den der Pädagogik angrenzenden (und nicht angrenzenden) Wissenschaften anpassen. Die Störung des Gleichgewichts, das zu einer Wiederherstellung auf einer neuen, höheren Ebene führt, ist das Grundgesetz sowohl des künstlerischen Schaffens als auch der Lebensfähigkeit der Organismen. Im breiten philosophischen Sinne ist Neue Klassik ein unendlicher Prozeß der Geburt ohne Sterben. Neue Klassik ist ein Kulturphänomen, das an eine hervorragend begabte Persönlichkeit erinnert, die sich ständig weiterentwickelt und in der gleichzeitig ein geniales Kind, ein wißbegieriger Teenager, ein abenteuerlicher Jüngling und ein reifer Mann koexistieren.

 

Wenn wir von der Notwendigkeit einer Verbindung zwischen der hochentwickelten Technologie und der Kultur sprechen, muß man vor allem von der Beziehung zwischen „High-Tech“ und „Neue Klassik“ reden. Diese Beziehung kann nicht einseitig sein. Aus der Tatsache, daß High-Tech Neue Klassik benötigt, darf nicht gefolgert werden, daß man an der Kultur unendlich parasitieren kann. High-Tech ist finanziell unabhängig vom Unterbau seiner Pyramide, weil es den rentabelsten Teil der Industrie darstellt. Wenn sich in der Kultur etwas verkaufen läßt, so ist das eher der untere Teil der Pyramide. „Die Spitze“ benötigt Sponsoren. Eine andere Besonderheit der kulturellen Pyramide liegt darin, daß der untere und der obere Teil prinzipiell einander feindlich gesinnt sind. Die Industrie liegt außerhalb der Ideologien; die Beziehung zwischen den Massen- und hochentwickelten Technologien ist emotionell neutral. Die Gereiztheit, die der untere Teil der technologischen Pyramide der Spitze gegenüber empfindet, kann durch die Notwendigkeit der ständigen Umschulungen und Anpassungen an die wechselnden Bedingungen des Marktes hervorgerufen werden. Die Massenkultur und die höher Entwickelte verachten einander. Sie entsprechen so unterschiedlichen kulturellen Bedürfnissen der Bevölkerung, daß man nur bedingt von einer Pyramide sprechen könnte, wäre da nicht folgender Umstand:

 

Die „alte Klassik“ gehört paradoxerweise beiden Teilen der Kultur an, sowohl der Massenkultur als auch der höheren Kultur. Dem Namen nach ist sie ein Teil der hohen Kultur, aber „Eine kleine Nachtmusik“, die in der Hoteltoilette erklingt und die die gleiche Rolle wie der Geruch falscher Veilchen spielt, Vivaldis „Le quattro stagioni“ im Supermarkt, das Schicksalsthema der 5. Sinfonie Beethovens in der Werbung für Abführmittel, der „Bolero“ von Ravel in einem pornographischen Film, die blinzelnde Mona Lisa und Boticellis Venus in Fernsehreklamen für Telefonsex, Verfilmungen „erleichterter“ Fassungen literarischer Denkmäler und dergleichen mehr haben ganze Arbeit geleistet, indem sie diese Kunst in niedere Assoziationsreihen eingeflochten haben. Die Massenkultur zieht begierig alles zu sich, was nicht niet und nagelfest ist, was nicht zuverlässig geschützt ist, was der Möglichkeit zur Reaktion, zur Flucht, zum Erheben in unerreichbare Sphären beraubt ist.

 

Neue Klassik als Alternative zur kulturellen Versumpfung und als Analogie zur High-Tech benötigt eine massive, stabile, organisierte finanzielle Unterstützung. Diese Unterstützung sollte nicht von den Kultusministerien kommen, die ja kein Geld haben (und wenn sie welches haben, wird es für die Unterstützung der „demokratischen“ im Grunde aber volksfeindlichen Kultur verwendet), nicht von den Banken, von denen viele das Geld von der Steuer abschreiben, ohne eine Vorstellung zu haben, wen oder was sie unterstützen, nicht von reichen Kunstliebhabern, die teilweise aus einer augenblicklichen Laune heraus so handeln. Alle diese Quellen können nur zufällig in den richtigen Strom gelangen, aber selbst im letzten Fall wird dieser Strom schnell austrocknen. Die Unterstützung muß von denen kommen, die brennend an ihr interessiert sind, von den hohen Technologien selbst. Nicht genug dessen, die Entwicklung und die Festigung von Neue Klassik muß zu einem bevorzugten Gebiet der finanziellen Tätigkeiten der High-Tech werden, zugleich mit der Entwicklung und Festigung dieser Technologien selbst. Erinnern wir uns, daß das Wort Technologie selbst vom Griechischen Wort texnh (techne - Kunst) abstammt. Namentlich die hohen Technologien müssen sich mit der Erarbeitung der Projekte auf dem Gebiet der Kultur und Bildung beschäftigen, indem sie die einst so kraftvolle und andernfalls sterbende Neue Klassik ins Leben zurückrufen. Ohne einander können sie nicht überleben.

 

Diese Projekte dürfen nicht in engen nationalen Maßstäben erarbeitet werden, sondern mit einer klaren Vorstellung dessen, daß wir alle in einem Boot sitzen. Die Vereinigung Westeuropas, der Sturz der kommunistischen Regimes in Osteuropa, das wachsende Interesse der Amerikaner an ihren kulturellen Wurzeln in Europa, der kulturelle und industrielle Aufschwung in den Ländern Südostasiens, das „literarische Wunder“ Lateinamerikas und die Hoffnung auf ein folgendes ökonomisches Wunder - all das ist für uns eine einmalige Chance. Vor den hohen Technologien steht eine der größten historischen Aufgaben, die außer ihnen heutzutage niemand lösen kann. Die technische Aristokratie des 21. Jahrhunderts muß die kulturelle Stafette übernehmen, die vor 200 Jahren aus den Händen des Geburtsadels gefallen ist und die Rolle spielen, die die anderen Erben „vermasselt“ haben. Das Nahen des Jahrtausendwechsels gibt uns auch den psychologischen Rückhalt: „Morgen aufzuwachen und ein neues Leben anzufangen“.

 

 

Aus dem Russischen von Rudolf Neumann



[1] Dieser Aufsatz wurde in der russischen Sprache in einer der populärsten Zeitungen Russlands „Nezavisimaya gazeta“ am 15.07.1997 in Moskau veröffentlicht.

[2] Unter Mussolini wurde 1250 italienischen Gelehrten vorgeschlagen, ein Papier zu unterzeichnen, daß ihre Loyalität zum faschistischen Regime unter Beweis stellt. Nur 12 Menschen, das heißt weniger als 1%, lehnten die Unterschrift ab. Unter diesen zwölfen befanden sich drei Naturwissenschaftler (zwei Chemiker und ein Mediziner), die anderen waren alle Humanisten. Man sieht, daß sich nicht einer, der z.B. Physik, die damalige „hohe Technologie“ repräsentieren würde, von der Unterzeichnung aus Gewissensgründen losgesagt hat (fairerweise muß man Pontecorvo erwähnen, der vor dem genannten Ereignis in die UdSSR floh ohne Zuwissen, wie blutrünstig das Stalinregime war). Die sowjetischen Gelehrten, vor allem die Physiker, arbeiteten für das Regime mit echtem Enthusiasmus, doch die seltenen Wiedersprüche kamen von den Humanisten und in den GULAG wurden auch vornehmlich sie gesteckt. Offensichtlich erwies sich die humanistische Bildung als das wirksamere Serum gegen das Handeln mit dem Gewissen im Vergleich zu den naturwissenschaftlichen.