Copyright © Alexander Schetinskij (1993)
Copyright
© Waldemar Merk, Rudolf Neumann, Oliver Zimmermann (Übersetzung) (1993)

 

DAS MUSIKPÄDAGOGISCHE SYSTEM VALERI BRAININS[1]

 

Schetinskij, Alexander Stepanowitsch wurde 1960 geboren. Er studierte an der Musikhochschule in Charkow [Ukraine. - Anm.d.Übers]. Zur Zeit unterrichtet er an eben dieser Hochschule Komposition, Instrumentation und einen speziellen Kurs der Kompositionstechniken des XX. Jahrhunderts. [Er bekam erste Preise bei internationalen Kompositionswettbewerben in Polen und Holland - Anm.d.Übers].

 

 

In unserer Zeit wird sich wahrscheinlich kaum jemand über ein neues System der musikalischen Früherziehung wundern. In den letzten Jahrzehnten wurden in diesem Bereich einige verschiedene Methoden entwickelt, und es wird weitergeforscht. Im Folgenden wird die Rede von einer einzigartigen Methode sein. Die Ergebnisse, die man mit ihrer Hilfe schon erreicht hat, lassen uns hoffen, daß ein allmählich steigendes Niveau der musikalischen Kultur unserer Gesellschaft keine Utopie ist.

 

Wir machen uns selten Gedanken darüber, wie effektiv unsere Musikerziehung (besonders die Früherziehung) die Mechanismen zur Wahrnehmung der Musik entwickelt. Die Rede ist hier nicht von der analytisch-professionellen Auseinandersetzung, sondern von der unmittelbaren Hörwahrnehmung, die zum Verstehen der erklingenden Musik führt, und von der schnellen und adäquaten Reaktion auf das, was man hört. Diese Problematik ist nicht neu, aber lange Zeit versuchten Kritiker und Pädagogen, das Publikum mit folgenden Mitteln zu belehren: mit literarischen Erklärungen, malerischen Assoziationen und biographischen Einzelheiten, also mit Mitteln, die für die Musik unspezifisch sind und höchstens eine Hilfsrolle annehmen können. Ein solcher Zugang ist stark vereinfacht und daher unangemessen, weil man mit ihm nicht lernt, in musikalischen Kategorien zu denken und die Musik als einen Intonationsprozeß[2] wahrzunehmen, der in irgendeine andere Sprache nicht übersetzbar ist. 

 

Zum Beispiel wird die berühmte Aussage "So klopft das Schicksal an die Pforte" zwar Beethoven selbst zugeschrieben, trägt aber zum Verstehen der fünften Sinfonie nicht viel bei, wenn der Hörer nicht zumindest im allgemeinen, thematische und harmonische Entwicklungen nachvollziehen kann, die Details der Form und Instrumentierung nicht bemerkt und den Unterschied zu dem, was vor und nach Beethoven war, nicht fühlt. Wobei das eben genannte nicht in der "stillen Stube" geschieht, mit Hilfe von Partituren, sondern durch das komplizierteste psycho-emotionale Empfinden in einer Konzertsituation. Ist solch ein "verstehendes Hören" überhaupt möglich? Ich denke ja. Hörer mit einem entwickelten musikalischen Denken nehmen die Musik auch genau so wahr. Die Fähigkeit dazu entwickelt sich meistens unbewußt, auf Grund der langen (meist professionellen) Erfahrung und einer offensichtlich vorhandenen Begabung.

 

Ist es denn nun wirklich so, daß das wahre, tiefe Empfinden der Kunst der Töne nur den reifen Musikern zugänglich ist? In der Tat scheint das heutzutage der Fall zu sein. Was aber soll mit den Musikliebhabern geschehen, die sich theoretisch entwickeln könnten, aber nicht im Stande sind, selbst die spezifische Sprache der Musik zu erlernen? Hier Abhilfe zu schaffen, ist Aufgabe der musikalische Früherziehung. Aber wird sie mit dieser Aufgabe fertig? Führt das Netz von Musikschulen, Klassen usw. zur Entstehung eines aktiven Zuhörerkreises? Das Publikum der Pop-Kultur entwickelt sich völlig unabhängig von dem Niveau der Bildung. Außerdem ist diese Kultur nur für das passive Zuhören bestimmt. Was die Zuhörer in den Opern- oder Konzertsälen, wo die sogenannte E-Musik gespielt wird, betrifft... Aber zuerst erinnern wir uns daran, wie unsere Vorfahren die Musik hörten.

 

Es ist bekannt, daß bei der Premiere eines Werkes von Haydn oder Mozart die Zuhörer, wenn sie zum Beispiel eine ungewöhnliche Modulation oder ein interessantes Solo einer der Holzbläser hörten, applaudieren konnten, bevor der Satz zu Ende war. Es scheint, daß die Zuhörer nicht weniger Feingefühl und Erfahrung in der Musik hatten, als die Profis, die ihrerseits auch "nicht ohne" waren. Jeder Musiker konnte damals improvisieren, nicht nur in der freien, sondern auch in der strengen Form. Die Stilistik setzte voraus, daß jeder Spieler das musikalische Gewebe nach seinem Geschmack mit verschiedenen Verzierungen dekorieren konnte. Es war außerdem notwendig, das ziemlich komplizierte Artikulationssystem zu kennen (das, was im zwanzigsten Jh. die Anhänger der sogenannten authentischen Richtung wiederzubeleben versuchten). Es gab natürlich auch Fälle, in denen die Werke nicht verstanden wurden, aber die waren eher die Ausnahme. Im allgemeinen ist die Beherrschung der musikalischen Sprache sowohl bei den Professionellen als auch bei den Konsumenten der Kunst für das musikalische Denken der klassischen Epoche kennzeichnend. 

 

Bedauerlicherweise gehört diese Epoche der Vergangenheit an, und der Riß zwischen der Musik und der Fähigkeit zu ihrer Rezeption wird immer größer. Heute kann man von der aktiven Wahrnehmung der wichtigsten "Bestandteile" eines Werkes bei einem "durchschnittlichen" Hörer nur noch träumen. Besonders die Rezeption eines zeitgenössisches Werkes (mit seiner harmonischen Logik, der Besonderheiten der Form, der Intonationsentwicklung und das alles als einheitliche Wahrnehmung) gerät zur Utopie. Leute, die nicht speziell ausgebildet wurden, nehmen die Musik "zu allgemein" wahr und bekommen so von ihr nur eine oberflächliche Vorstellung. Sie sind es nicht gewohnt und sind auch nicht im Stande, auf die meisten Details des Werkes fachmännisch zu reagieren. Heute ist ein verstehender Musikliebhaber zu einer Seltenheit geworden. Die meisten Profis aber (mit Ausnahme von hervorragenden Persönlichkeiten) verlassen sich auf ihre Intuition, die in den Ausbildungsstätten überhaupt nicht weiterentwickelt wird, und auf ihre psychomotorische Reaktionen. (z. B.: Pianisten können eine Fuge von Bach auswendig lernen und vorspielen, aber nur wenige von ihnen könnten sie aus dem Gedächtnis heraus aufschreiben oder jede Stimme einzeln spielen).

 

Eine gewisse Vereinfachung des musikalischen Denkens bei den Massen, wie auch zum Teil bei den Profis und ein Übergang vom aktiven Mitwirken zum passiven Konsumieren ist offensichtlich. (Und das bei immer komplizierter werdenden Musiksprachen!) Das schöpferische Bewußtsein der Gesellschaft verarmt, einfacher ausgedrückt, das kulturelle Niveau sinkt. Das ist das Problem der heutigen Zeit, das dringend einer Lösung bedarf, sonst haben die Musiker von morgen keine Zuhörer mehr und sind gezwungen, nur für sich selbst oder für einander zu arbeiten.

 

Diese Problematik beschäftigte auch den Moskauer Musiker Valeri Brainin, als er, vor zwanzig Jahren ein System der Entwicklung des musikalischen Denkens zu bilden begann.[3] Äußerlich erinnert es an das russische Solfeggio, tatsächlich vereinigt es in sich aber den ganzen Komplex der musiktheoretischen Fächer. Unter den verschiedenen verwendeten Quellen sind besonders die Arbeiten L.Masels, A.Ogolewezs, Ju.Cholopows, G.d'Arezzos, Z.Kodálys, C.Orffs, J.Curvens und A.Hundoeggers zu nennen, die Brainin bei der Ausarbeitung seines Systems beeinflußt haben. Desweiteren verfügt er über eine solide Literatur zur Semiotik, Kybernetik, Informationstheorie, Kinderpsychologie und sogar zur Betriebsführung. Einige wichtige Ideen sind unter dem Eindruck von Hermann Hesses "Das Glasperlenspiel" entstanden. 

 

Das System Brainins ist vor allem für die Arbeit mit Kindern (angefangen bei 4-5jährigen) gedacht, kann aber auch auf Übung mit Erwachsenen übertragen werden. Ein Unterschied zwischen professioneller und nicht-professioneller Ausbildung wird nicht gemacht, denn in beiden Fällen bleibt die Aufgabe die gleiche: Erziehung zur musikalischen Wahrnehmung. Der Unterschied besteht vielmehr darin, daß der "Profi" (der "Experte" nach Adorno) weiter und tiefer in die Elemente des musikalischen Denkens vordringt als der "Liebhaber" (der "gute Zuhörer" nach Adorno). Und wenn während des Instrumentalunterrichts die zukünftigen Instrumentalisten die Liebhaber bald überflügeln, so soll doch zumindest in den begleitenden Disziplinen kein spürbarer Unterschied zwischen beiden entstehen.

 

Aus diesem Grund haben sich die Unterrichtsgruppen Brainins sowohl aus Schülern des Gnessin-Musikgymnasiums, Schülern der Bezirksmusikschule als auch ganz "normalen" Kindern, also Kindern ohne irgendwelche außergewöhnliche Begabungen zusammengesetzt. Es war in der Anfangsphase möglich, die vorhandenen Unterschiede - wenn auch nicht ganz zu beseitigen - so doch auf ein Minimum zu reduzieren, indem die in jedem Menschen vorhandenen verborgenen musikalischen Fähigkeiten mit Hilfe intensiver Förderung ausgebildet wurden. Im Alter von 9-10 Jahren konnten die Kinder Musikdiktate aufschreiben, die etwa dem Schwierigkeitsgrad der siebten, bzw. achten Klasse der Zentralen Musikschule des Moskauer Konservatoriums entsprechen. In der Harmonielehre waren sie auf dem Niveau des dritten bis vierten Semesters der Musikfachschule, orientierten sich gut in der Partitur, lasen einzelne Instrumentalstimmen (auch in den "C" Schlüsseln und transponierender Schreibweise), analysierten traditionelle Formen, hatten eine allgemeine Vorstellung von den verschiedenen Stilrichtungen der Kunst im 18-19 Jh., das heißt sie nahmen die Musik im historischen Kontext wahr. Außerdem machten sie die ersten Erfahrungen in der Komposition. Selbstverständlich konnten die, die gleichzeitig Instrumentalunterricht in der Musikschule bekamen, den Text schneller auswendig lernen und gut vom Blatt spielen. Zu solchen Ergebnissen kamen sie nach fünfjährigem Unterricht unter Verwendung von Brainins Methode, wobei die Stunden zweimal in der Woche stattfanden und jeweils 45 min. dauerten. Die Hausaufgaben bestanden nur aus dem praktischen Wiederholen dessen, was im Unterricht behandelt wurde. (Während der ersten 2-3 Jahre mit Hilfe von Eltern). Was für ein System ist denn dies?

 

Zuerst betrachten wir einige allgemeine Ideen. Kinder machen die ersten Erfahrungen in der Musik bekanntlich mit großer Begeisterung, die mit der Zeit dann nachläßt, oder oft ganz verschwindet. Es scheint offensichtlich, daß die Menge an Information (Zeichen- und Hörinformation) irgendwann die Fähigkeiten des Kindes übersteigt. Jemand, der z.B. ein Tasteninstrument zu spielen erlernt, kommt zu einem paradoxen Schluß: das Spielen ist ziemlich leicht (du drückst die Taste und der Ton kommt wie von selbst), aber das Verstehen -besonders in der Mehrstimmigkeit- dessen was da klingt, ist sehr schwierig. Und noch schwieriger ist es, wenn ein anderer spielt. Wenn die notwendige Kontrolle durch das Gehör und die adäquate Abschätzung schwer fallen, kommt es zur psychischen Verkrampfung. Kinder versuchen dann die Musik mechanisch zu spielen. Da wird die Lust zum Frust. Aber der Schneeball der Information wird immer größer. So kann es schon am Anfang zu einer Spaltung zwischen Theorie und Praxis kommen, und mit den Aufforderungen "Höre den Ton!", "Spiele mit Gefühl!" kann man ihn nicht beseitigen. In Wirklichkeit kann das Kind nicht hören, was es spielt, d.h. es kann die Intonation nicht wahrnehmen.

 

Das Wahrnehmen der Musik kann man als Empfang einer Reihe von Signalen erklären, deren auftauchen unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten unterliegt, die ihrerseits von den Vorkenntnissen des Zuhörers abhängen. Wenn es jemandem gelungen ist, etwas zu entdecken, was die anderen noch nicht entdeckt haben, was aber im stilistischen System der Sprache der Musik vorprogrammiert war, spricht man von einer "künstlerischen Entdeckung" (Begriff von L.Masel).[4]

 

Es scheint selbstverständlich, daß die Trefferquote beim Anfänger noch nicht sehr hoch sein kann: für ihn ist fast jedes musikalische Ereignis eine Entdeckung. Erst danach wird es als etwas gewohntes, selbstverständliches erwartet. Brainin, der dem prognostizierenden Wahrnehmen von Musik eine hohe Stellung beimißt, entschließt sich diese Fähigkeit schon bei Kindern zu entwickeln und erreicht dabei eine hohe Treffsicherheit im Antizipieren des Musiktextes. Dies bedeutet, daß jedes "intonationelle Wissen"[5] bis zur stereotypen Wahrnehmung geführt werden muß. Diese Wahrnehmung wird aber mit Hilfe neuen Wissens (Entdeckung) wieder gestört. Allerdings wird auch dieses neue Wissen allmählich zum Stereotyp, welche mit der Zeit aufgrund neuer Informationen wieder gestört wird usw. Niemand braucht so einen Zugang zu fürchten. Jede beliebige Handlung (Tätigkeit), die der Mensch ausführt, ist voll von Stereotypen (Gewohnheiten). Das schablonenhafte Denken entsteht nicht durch die Menge der Handlungen, sondern vom Verhältnis zum Original, aus der Unfähigkeit heraus, neue Kombinationen auf der einen oder anderen Ebenen zu schaffen. Nehmen wir z.B. unser Sprachlexikon - eine Ansammlung von Stereotypen, die man sowohl im schöpferischen als auch im banalen Denken benutzen kann. Auch für die Musik, die ebenfalls eine Art Sprache darstellt, ist es von Vorteil, sich einen intonationellen Grundwortschatz anzueignen. 

 

Dieser Grundwortschatz ist in den Kulturen verschiedener Zeitepochen und Völker äußerst unterschiedlich. Es ist daher unmöglich, alles auf einmal zu erfassen. Es ist notwendig, sich am Anfang auf das Wichtigste zu konzentrieren. In dem hier besprochenen System dient die klassische Musik des 18.-19. Jahrhunderts als Grundlage für den sprachlichen Kontext. Hinzu kommen noch einige Formen der folkloren und neuen Musik, die der Konzeption des Systems als Ganzes nicht widersprechen. Auf diese Art und Weise wurde der größte Teil der Musik, die uns umgibt, erfaßt. Weiterhin war es unumgänglich, festzulegen, was die Hauptelemente in der musikalischen Sprache seien. Brainin ist der Meinung, daß es das Motiv und die Phrase sei. Es scheint, als ob dies selbstverständlich wäre, jedoch erinnern wir uns daran, wie man in der herkömmlichen Gehörbildung vorgeht: Mit der traditionellen Methode lernen die Kinder zuerst die Noten, dann die Notenwerte, Taktmaß, Vorzeichen, Tonleiterstufen, Tonarten usw. Das wird alles einzeln nacheinander gelernt. Für jeden Menschen, vor allem für Kinder, sind es äußerst abstrakte Dinge, welche man lediglich nur rational erlernen kann, aber gerade die Musik ist in erster Linie mit dem Gehör wahrzunehmen. Wie recht haben doch die Musikforscher mit der Feststellung, daß das "Nichtwahrnehmen und das Wahrnehmen der Musik der erste Faktor ist, der unmittelbar die ästhetische Einstellung des Menschen beeinflußt".[6] Alle aufgezählten Elemente sind im Motiv als ein Ganzes enthalten und stellen damit eine musikalische Intonation dar. Wenn man versucht, diese Einheit auseinanderzunehmen (um etwa den Lernprozeß zu vereinfachen), würden wir uns von der lebendigen, künstlerischen Praxis völlig entfernen. Darin liegt der Fehler der traditionellen Gehörbildung. Wahrscheinlich lieben gerade deswegen viele Kinder dieses Musikfach nicht. Valeri Brainin schlägt vor, zwar kurze, aber dafür ganze musikalische Gedanken bzw. Motive oder Phrasen zu lernen. Das können 2-3 Noten sein, die in bestimmten tonalen und rhythmischen Verhältnissen zueinander stehen, schon konkret-intonationelle Informationen enthalten und einen bestimmten stilistischen Kontext ergeben. Zum Beispiel das Motiv (Zeichnung 1), welches in unterschiedlichen Formen in der gesamten europäischen Musik auftaucht, eignet sich das Kind durch Hören, Singen und Spielen an. Auf diese Art und Weise erlernt der Schüler die tonalen und rhythmischen Formeln, ohne dabei zu wissen was Harmonie, Tonalität, Tonika, Viertel, Achteln sind, ja sogar ohne zu wissen, was alle Noten zu bedeuten haben. Das braucht er vorerst auch noch gar nicht. Viel wichtiger ist es, daß sich eine der wichtigsten Intonationen der Klassik in seinen Bewußtsein einprägt, daß sich eine künstlerische Entdeckung, die im Privaten stattfand, in eine gewöhnliche und verständliche musikalische Gestalt verwandelt. 

 

Der weitere Verlauf des Unterrichts bei Brainin baut in der stufenweisen Aneignung der intonationellen Hauptbestandteile der klassischen Musik auf. Die Kinder stehen im Grunde genommen vor einer sehr großen, jedoch völlig machbaren Aufgabe: Singen, durch sich hindurchlassen und bewußt machen unseres geistig-kulturellen Erbes. Wir schauen uns jetzt die einzelnen Bestandteile dieses Lernprozeßes an. 

 

Wie schnell sollte man den Schüler an die Tonstufen der Moll- und Durharmonik heranführen? Es ist unbestreitbar, daß in kurzer Zeit die musikalische Verinnerlichung des diatonischen Systems, welches einen kolossalen intonationellen Reichtum in sich birgt, für das Kind unmöglich ist. Eigenartigerweise macht man sich gewöhnlich keine Gedanken darüber, und sehr oft ist dann lediglich das schnelle mechanische Erlernen von Tonnamen und deren Anordnung und das mechanische Ausrechnen der Abstände untereinander wichtig. Anders kann es auch nicht sein, wenn die Geschwindigkeit des Erlernens zählt: die Dur- und Molltonleitern enthalten jeweils Elemente bzw. Stufen mit völlig verschiedenen Funktionen, deren Wechselwirkung untereinander sehr stark sind.[7] daher geht Brainin in seinem Unterricht erst dann zu neuen intonationellen Formeln über, wenn die vorhergehenden völlig verinnerlicht und verarbeitet sind. Im weiteren Verlauf des Lernprozesses wird sich dieses langsame Vorgehen als ein beschleunigender Faktor für die Entwicklung des tonalen Gefühls erweisen. In der Anfangsphase lernen die Kinder einige Lieder, in welchen die typischen Verbindungen von einer oder mehreren Stufen mit der Tonika vorhanden sind. Hier sind einige Beispiele dazu (Zeichnung 2). 

 

Es ist sehr wichtig, daß sich der Grundton, umgeben von Strebetönen, in der Mitte des Modus befindet. Gerade so ist der größte Teil der Musikthemen aufgebaut. Ein Modus mit 2 Grundtönen (von beiden Seiten) kommt nur in den Gehörbildungsstunden vor, aber nicht in der kompositorischen Praxis. Die Folge der Aneignung von Tonstufen in melodischen Wendungen (Kadenzen) sehen bei Brainin wie folgt aus (in Dur): V(untere)-I, VI(untere)-V-I, VII-I, II-I, III-II-I, V(obere)-I, IV-V(obere)-V(untere)-I. Die Tonart, mit der anfangs ausschließlich gearbeitet wird, ist Fis-Dur. Sie ist angenehm zu singen und - von der Klaviatur her - sehr übersichtlich: Die Tonstufen sind klar erkennbar (durch die schwarzen Tasten). Die Tonart hat auch den Vorteil, daß sie eine störende Wirkung der gesanglichen Reaktion auf die weißen Tasten verhindert. Das erlaubt uns im Anfangsstadium die Trennung des relativen und absoluten Gehörs. Danach geht man zu Moll, zur Diatonik mit siebenstufigen Modi (lydisch, dorisch u.a.), zu diatonischen Alterationen usw. , aber auch zu anderen Tonarten über. Jede der neu hinzukommenden Tonstufen steht in Verbindung mit einer bestimmten Kadenz, welche in einem der Lieder vorkommt. Das einstimmige Singen des Schülers wird vom Lehrer harmonisch (z.B. mit Hilfe des Klaviers) begleitet. Dies ist zur Entwicklung eines sicheren Gespürs für das tonal-harmonische Fundament nötig. Erst im weiteren Unterrichtsstadium ist saubere (bewußte) Intonation ohne harmonische Begleitung möglich.

 

Die Lieder werden oft wiederholt, und am Ende des ersten Unterrichtsjahres beherrschen die Kinder die ganze Dur-Tonleiter. Niemand verwechselt die einzeln gespielten Stufen, denn sie sind bereits "gute Bekannte", jede mit ihrem besonderen klanglichen Charakter. Die Kinder erkennen die Konturen der gelernten Lieder auch dann, wenn der Pädagoge das Motiv etwas verändert, ohne dabei die tonale Funktion der Struktur zu ändern. Die Kinder denken sich dann mit viel Vergnügen ähnliche Variationen aus, wobei sie sehr wohl verstehen, was und womit sie verändern (Motivvariationen). Während des Singens müssen sie alle Tonstufen mit ihren jeweiligen Stufensilben nennen. 

 

Die Silbenbezeichnungen der Tonstufen hat Brainin vom estnischen Chormeister H. Kaljuste übernommen. Einige Tonstufenbezeichnungen hat er verändert und sie an die gleichnamige zusammengesetzte Diatonik (z.B. Dur-Moll plus natürliche "Kirchentonarten" von C) angepaßt, welche dann im weiteren Verlauf zur Chromatik übergeht.[8] Nehmen wir z.B. das natürliche Dur, dann sind es folgende Tonstufenbezeichnungen: JO (I), LE (II), WI (III), NA (IV), SO (V), RA (VI), TI (VII). Jede erhöhte Tonstufe endet mit dem Vokal "i": JI (I#), LI (II#), NI (IV#) usw., und die erniedrigte Tonstufe auf "u": WU (III in Moll), TU (VII im natürl. Moll), LU (IIb) usw.[9] Den Kindern fällt dabei eine Gesetzmäßigkeit auf, die beim Singen dieser Tonstufensilben in ihrem Unterbewußtsein ein Gespür für die Tonhöhe der jeweils gesungen Stufe im Modus entwickelt. Im weiteren Verlauf erlaubt dieses System das Erlernen eines jeden beliebigen Modus. Im Alter von 9-10 Jahren sind die Kinder in der Lage sich äußerst schwierige Modi anzueignen. Die Folge ist, daß der intonationelle Schatz der Kinder deutlich größer wird. Die Silbenbezeichnungen der Tonstufen werden diesem System entsprechend mit der Handzeichengestik von J.Curven-Z.Kodály und mit graphisch-farblichen Symbolen ergänzt und gefestigt. Auf der Grundlage von wechselseitigen Beziehungen zwischen den modalen Tonstufen und dem Farbenspektrum entwickelte Brainin ein spezielles farb-graphisches Schema. Dieses Schema zeigt die funktionelle Wechselbeziehung der Tonstufen in Dur und Moll an, welches unter anderem als anschauliches Hilfsmittel in seinen Unterrichtsstunden eingesetzt wird. Das Resultat dieser verschiedenen Hilfsmittel ist die Entwicklung folgender Mechanismen, mit denen die Kinder auf musikalische Informationen reagieren: 

- musikalisches Gehör

- Stimmartikulation

- visuelle Reaktion

- Handzeichengestik

 

Es ist kein Zufall, daß ich hier den kognitiven Mechanismus nicht aufführe. Natürlich wird auch dieser Mechanismus entwickelt, jedoch später. Das Kind soll nicht die klangliche Information analysieren und auseinandernehmen, sondern sie als ein Ganzes hören und einschätzen. Dabei geht das Kind von seinem, wie bereits erwähnt, entwickelten intonationellen Schatz aus. 

 

Parallel zum Singen von Tonstufen lernen die Kinder auch, diese Stufen auf der Klaviatur zu "sehen". Dadurch können Sie die gelernten Lieder sehr schnell in jede anderen Tonart transponieren (zu Anfang noch einstimmig). Das graphische Stufenschema hilft den Kindern am Anfang, sich auf den schwarzen und weißen Tasten zu orientieren. Später entfällt die Notwendigkeit für dieses Hilfsmittel. Singen und Spielen von Tonstufen sind im Anfangsstadium sehr wichtig. Später geht man aber zum Intonieren auf Notennamen (absolute Solmisation) über, was für die Kinder dann kein Problem mehr darstellt.[10] Dabei verwechseln die Kinder die Bezeichnungen von schwierigen Tonarten nicht, obwohl sie von Vorzeichen noch gar nichts gehört haben (das wird später gelernt): die genaue Abstimmung von Tonstufensystem und dem System der Notenbezeichnung schließt derartige Fehler aus. Auf diese Weise wird das relative (tonale) Gehör entwickelt - das Hauptinstrument zur Wahrnehmung von Tonhöhen in der europäischen Musik. Valeri Brainin hat jedoch die Entwicklung des absoluten Gehörs nicht vergessen, d.h. das Gedächtnis für absolute Tonhöhen (Frequenzen), die in keiner Verbindung zu Einander stehen. Mit einer Reihe von speziellen Übungen entwickelt sich bei 80% der Schüler das absolute Gehör, oder zumindest nahezu, wobei das absolute Gehör in unserem musikalischen Denken eine recht unbedeutende Rolle spielt (es ist bekannt, daß viele große Meister ohne diese Fähigkeit auskamen). Brainin ist jedoch der Meinung, daß das absolute Gehör ein durchaus wünschenswertes Element in der professionellen Tätigkeit eines Musikers ist, allerdings nur in Verbindung mit dem entwickelten relativen Gehör. 

 

Das Erarbeiten genauerer Wechselwirkungen zwischen den Gehörempfindungen, der gesanglichen Intonation (die nicht direkt mit dem Gehör in Verbindung steht, wie oft angenommen wird), dem Spiel auf einem Instrument, den visuellen Vorstellungen und der Handzeichengestik werden durch das Erlernen und Schreiben der Notenschrift ergänzt (ich rufe nochmals in Erinnerung, daß bei der traditionellen Methodik sich der Schüler erst mit dem abstrakten Notenlernen beschäftigen muß). Das Hauptproblem, das dabei auftritt, ist die Wechselbeziehung verschiedener Strukturen: anschauliche Darstellung der Klaviatur, das 5-Liniesystem, Notenbezeichnungen und natürlich die Gehörempfindungen. In Anbetracht dieses scheinbar leichten Problems schlägt Brainin vor, dies mit der schrittweisen Aneignung von Noten, welche mit der Entwicklung des absoluten Gehörs parallel geht, zu lösen. Mit der scheinbaren Verlangsamung des Lernprozeßes eignen sich die Kinder den Stoff (graphische Notation, gute Unterscheidung im Violin- und Baßschlüssel, aber auch anderer Schlüssel) bedeutend schneller und intensiver an. Jede Note bekommt ihre anschauliche Darstellung, das heißt wiederum, das Erlernen geschieht nicht durch ausrechnen und pauken, sondern durch Assoziation. 

 

Von den ersten Stunden an beginnt die Ausbildung des rhythmischen Denkens (vielleicht ist dies der originellste Teil des Systems). Und wieder ist der Ausgangspunkt nicht die Schulregel, sondern die lebendige Intonation. Es ist bekannt, daß viele Menschen zugeben, in dem einen oder anderen Werk nichts verstanden zu haben. In Anbetracht dieser Situation stellt Brainin eine Ähnlichkeit des Erlernens von Musik mit dem Erlernen einer Fremdsprache fest. Der Anfänger nimmt den Redefluß einer Fremdsprache ungegliedert wahr und ist nicht in der Lage, ihn zu verstehen, auch wenn ihm die einzelnen Wörter bekannt sind. Dies resultiert aus der Unfähigkeit, den Text gedanklich in syntaktisch sinnvolle Abschnitte zu gliedern. Ebenso in der Musik, denn nach Brainin ist das Segmentieren und Gliedern des Textes auch gleichzeitig sein Verständnis.

 

Die traditionelle Methodik versucht ebenfalls den Text zu gliedern - aber in was? In unterschiedliche Längen, in Takte und in schwere und leichte Zählzeiten. Aufs neue verschwindet die Intonation. Es wird gelehrt, daß die Halbe doppelt so lang ist wie eine Viertel und diese doppelt so lang wie eine Achtel usw.. Die auf diese Weise unterrichteten Kinder sind nicht im Stande ein einfaches Diktat zu schreiben, wenn es im freien Tempo gespielt wird, (z.B. um den Tanzcharakter zu unterstreichen). Es ist auch nicht verwunderlich, denn sie hören ja nicht Musik, sondern rechnen den Abstand von einer zur anderen Note aus. Aber tatsächlich muß eine Halbe nicht genau der Länge von zwei Vierteln entsprechen: Sie kann etwas länger oder kürzer sein. Alles hängt von der Agogik und Phrasierung ab; wenn die Länge einer Note nicht in einen musikalischen Kontext eingebunden ist, ist ihre Bestimmung sinnlos. 

 

Des weiteren wird gelehrt, daß die Musik in Takte gegliedert ist, in denen es starke und schwache Teile gibt. Die Musik aber wird nicht in Takte gegliedert, sondern in musikalische Gedanken, und die starken Zählzeiten sind Akzente, die im Motiv ganz unterschiedliche Funktionen ausfüllen können: sie können sowohl eine Kulmination als auch eine inerte Zone bilden[11] . Daraus zieht Brainin die Schlußfolgerung, daß nicht der Unterschied der Tondauer gelehrt werden muß, sondern die Akzentrhythmik. Über das Erfühlen der abwechselnden Akzente begreifen die Kinder die rhythmische Struktur und selbst ein Rubato im Diktat kann sie nicht verunsichern.

 

Die konkrete rhythmische Ausbildung sieht bei Brainin folgendermaßen aus:

 

Es werden die einfachsten, für die klassische Musik charakteristischen rhythmischen Formeln genommen, sie kommen auch in zahlreichen Kinderabzählreimen vor (Zeichnung 3). Carl Orff schlägt scheinbar die gleichen Formeln vor, allerdings sind sie nicht auftaktig (Zeichnung 4).

 

Der Unterschied liegt darin, daß in den Braininschen auftaktigen Modellen die Zone der Information (Auftakt) und die Zone des Erratens (die ganze schwere Zählzeit) klar voneinander abgegrenzt sind und zwischen ihnen die Kulmination (der Taktstrich und der Akzent) liegt. Die volltaktigen Figuren haben eine kompliziertere Struktur, da sie mit der Kulmination beginnen und die Informationszone und die Zone des Erratens zusammenfallen. Mit einer unausgebildeten Wahrnehmung sind sie schwer zu begreifen, deshalb sind diese Figuren in den Kinderreimen nur in komplizierteren und längeren rhythmischen Formeln anzutreffen, in den die Zone des Erratens (Inertie) und der Information etwa folgendermaßen umgeschichtet sind (Zeichnung 5).

 

Brainin, der diese Eigenschaft der rhythmischen Modelle bemerkt hat, führt sie etwas später ein. Wie auch die Tonstufen bekommen die kleinsten rhythmischen Einheiten Silbennamen (Zeichnung 6)[12].

 

Der weitere Unterricht wird aufgebaut auf einer Zusammenfassung und dem allmählichen Erschweren der rhythmischen Strukturen (von der völligen Übereinstimmung des Akzents und des Taktstrichs bis zur Nichtübereinstimmung derselben). Schon nach 1-2 Monaten werden die einfachsten rhythmischen Diktate verstanden, wobei nicht einfach die Notenlängen aufgeschrieben werden, sondern auch die Phrasen mit ihren Taktstrichen und Bindebögen, die auf die Zäsuren hinweisen. Die Kinder lernen hier nicht ein Schema von 3/4 oder 4/4 wahrzunehmen, sondern eine Kette von Akzenten und Nichtakzenten. Deswegen können sie zum Schluß des ersten Unterrichtsjahres schon Rhythmusdiktate im 5/4 bzw. im 7/4 aufschreiben, wobei die Taktart selbständig erfaßt werden kann ... 

 

In einem Zeitschriftenartikel kann man sich nicht allen Details des Braininschen System zuwenden. Wir wollen nur einige aufzählen: Er hat eine Methode entwickelt, mit der man sich mindestens 70 verschiedene Arten von Tonleitern aneignen kann, diese Zahl kann (im weiteren Unterricht) erhöht werden. Außerdem hat Brainin originelle Verfahren zum Erlernen von Intervallen und Akkorden (über 200 verschiedene Typen) sowohl nacheinander, wie auch simultan erklingend, eröffnet. Das Erfassen der Harmonien erfordert ab einem bestimmten Zeitpunkt das Praktizieren harmonischer Improvisationen. Hier sind interessante Zugänge zur Ausbildung des polyphonen Denkens vorhanden. Für die Arbeit mit Kindern hat Brainin spezielle Hilfsmittel entwickelt: ein Notenlinienbrett mit beweglichen Knöpfen, die die Noten darstellen und einen sogenannten "tonalen Rechenschieber", der die tonalen Beziehungen der einzelnen Stufen in jeder Tonart zeigt. Es ist in Deutschland und der GUS als Patentanmeldung veröffentlicht. Der Schieber ist ein Resultat aus dem "periodischen System der Tonalität" Brainins. Die Tabelle, die sehr kompakt die Gesetzmäßigkeiten des Quintenzirkels und der tonalen Beziehungen demonstriert, bezieht auch alle Kirchentonarten mit ein. Die von Brainin vorgeschlagenen graphischen Schemen erleichtern und beschleunigen die Aneignung der Modulationsordnung. Sie formieren die einheitliche Vorstellung vom tonalen Modulationsprozeß.

 

Jeder Leser, der mit den traditionellen Methoden vertraut ist, könnte erwidern, daß es in diesem System viele altbekannte und nur etwas abgeänderte Verfahren gibt. Dies ist tatsächlich so, obwohl es auch viele Momente gibt, die zum ersten Mal in die Pädagogik eingeflossen sind. Es geht hier aber nicht um die Originalität der einzelnen Verfahren als solche, sondern um deren Zusammenspiel und Zusammenwirkung und zwar in einem einheitlichen System. Der Autor dieses Artikels hat sich aus eigener Erfahrung davon überzeugt, daß sie nur im Rahmen des ganzen Systems funktionieren. Deshalb möchte man diejenigen warnen, die nur Einzelheiten übernehmen wollen. Daraus kann schwerlich etwas Gutes entstehen, aber die Idee kann diskreditiert werden.

 

Ein interessierter Leser wird sich wahrscheinlich die Frage stellen, wo man sich denn mit dem Braininschen System bekannt machen könnte. Seine grundlegenden Ideen hat er im Buch "Kursus der Musikalischen Sprache" erörtert. Das Buch und die praktischen Resultate dieser Methodik sind von Dimitrij Lichatschjow, Wjatscheslaw Meduschewskij, Sofia Gubaidulina, Edisson Denissow, Gyorgy Ligeti positiv beurteilt worden.[13] Leider ist es noch nicht zur Veröffentlichung dieses Buches gekommen. Dennoch sind einige Fragmente in einigen westlichen Musikzeitschriften veröffentlicht worden. Es wird auch eine vollständige Übersetzung ins Deutsche und Italienische vorbereitet.[14]

 

Brainin ist auch mit weitgefächerten Beiträgen im Radio Liberty[15], mit Vorlesungen auf verschiedenen Symposien, Kongressen und Seminaren und zyklischen Lektionen in Musikschulen und -hochschulen in Italien, Österreich und Deutschland[16] aufgetreten. Weitere Einladungen treffen ein. Offensichtlich verpassen wir wieder die Möglichkeit, rechtzeitig eine unserer Errungenschaften zu nutzen.[17] Ich schließe meine Betrachtungen, wie ich sie auch begonnen habe. Die Resultate der praktischen Anwendung Valeri Brainins und einiger seiner gleichgesinnten Nachfolger beweisen, daß die prinzipielle Bereicherung unserer allgemeinen musikalischen Ausbildung und eine wesentliche Beschleunigung der speziell fachlichen Ausbildung keine Utopie ist. Es bleibt zu hoffen, daß dieser Artikel die Aufmerksamkeit auf einen möglichen Weg in dieser wichtigen Angelegenheit lenkt.

 

Aus dem Russischen von Waldemar Merk, Rudolf Neumann, Oliver Zimmermann



[1] Dieser Artikel erschien erstmals unter dem Titel "Lehren des Intonationsdenkens! Das musikpädagogische System Valeri Brainins" in der Zeitschrift "Musykalnaja Akademia" im Januar 1993 in Moskau. "Musykalnaja Akademia" ist ein vierteljährlich erscheinendes Journal für wissenschaftlich-methodische und kritische Publikationen. Es erscheint seit Januar 1933 ( bis 1992 unter dem Namen "Sowjetskaja Musyka"). Gründer: Verband der Komponisten der Russischen Föderation, Ministerium für Kultur der Russischen Föderation, Herausgebervereinigung "Kompositor". In italienischer Übersetzung erschien dieser Arikel unter dem Titel "Das musikpädagogische System Valeri Brainins"  in der Zeitschrift "beQuadro" Nr.49/50, Januar-Juni 1993 in Florenz.- Anm.d.Übers.

[2] Intonation - (1) ein aus dem Gebiet der Sprache in die Musik übernommener Begriff, der in der sowjetischen Musikwissenschaft im Sinne von Assafjews Konzeption von der intonationsmäßigen Natur der Musik behandelt wird; im Zusammenhang damit wird die Intonation als die Grundlage der musikalischen Ausdruckshaftigkeit und der sinnvollen musikalischen Aussage betrachtet, die zu gleicher Zeit die Eigenheiten des nationalen Stils ausprägt. (2) Melodiefloskel, kleinste sinnvolle Melodiewendung (Tonschritt). Aus: G.Balter, Fachwörterbuch Musik / deutsch-russisch und russisch-deutsch, Moskau und Leipzig 1976, S.315 - Anm.d.Übers.

[3] Valeri Borissowitsch Brainin-Passek wurde 1948 in Nizhnij Tagil geboren. Er hat an der Tiraspoler Fachhochschule für Musik musiktheoretische Fächer unterrichtet. Nach seinem Umzug nach Moskau unterrichtete er an verschiedenen Musikinstitutionen, z.B. am Gnessin-Musikgymnasium für besonders begabte Kinder, nach dem von ihm entwickelten System, nach dem er auch Privatunterricht erteilte. Seit 1990 lebt er in Deutschland. Außer der musikalischen Früherziehung beschäftigt Brainin sich auch mit theoretischen Fragen im Bereich der Mikrochromatik. Dort entwickelte er die Ideen von A.Ogolewez weiter. Man muß hier aber auch bemerken, daß Brainin nicht nur ein professioneller Musiker, sondern zudem ein sehr interessanter Dichter ist. Seine Gedichte wurden verschiedentlich in "Novyj Mir", "Ogonjok", "Drushba Narodov", "Literaturnaja Gazeta" und einigen westlichen literarischen Zeitschriften veröffentlicht.

[4] L.Masel hat hier die "künstlerische Entdeckung" aus der Sicht eines Komponisten im Sinn. Schetinskij aber verwendet den Begriff im Sinne Brainins, der sagt, daß der Zuhörer auch solche "künstlerische Entdeckungen" macht. - Anm.d.Übers.

[5] Wissen um Vorgänge in der Musik. - Anm.d.Übers.

[6] Cholopowa, V. und Cholopow, Ju. : Anton Webern, Moskau 1984, S. 282

[7] Es sind nicht nur harmonische, sondern auch tonal-melodische Funktionen gemeint.

[8] H. Kaljuste, beeinflußt durch Ideen Kodálys, entwickelte ein System der parallelen Solmisation in Dur und Moll. Dieses System eignet sich hervorragend zur Herausbildung eines modalen Denkens auf der Grundlage von estnischer oder ungarischer Folklore oder der altertümlichen Polyphonie, ist jedoch vollkommen ungeeignet für die traditionelle Dur-Moll Tonalität mit einer zentralen Tonika.

[9] Brainin verwendet hier eine Idee A.Hundoeggers. - Anm.d.Übers.

[10] Darauf wird im Weiteren das Singen und Spielen in "C" Schlüsseln und der Transposition aufgebaut sein. Die Hauptsache ist, daß auf der Klaviatur oder im Notenbild die tonale Struktur gesehen wird.

[11] Der russische Begriff "inercija" wird im Deutschen durch verschiedene Begriffe wiedergegeben, wie: Beharrungstendenz, Trägheit, Beharrungsvermögen, Erhaltungsneigung usw. In der Medizin wird der Begriff Inertie verwendet, mit dem die Trägheit bzw. Langsamkeit eines Körperorgans hinsichtlich seiner Arbeitsleistung bezeichnet wird. In der Elektronik gibt es seit einigen Jahren einen Forschungs- und Anwendungsbereich, der sich mit mechanischer Inertie beschäftigt. Das Ergebnis dieser Disziplin sind "Inertiale Systeme", die z.B. eine positive oder negative Beschleunigung in ein elektronisches Signal umsetzen. (Reaktion von Sicherheitsgurten in Autos auf langsame oder schnelle negative Beschleunigung). Aus der deutschen Übersetzung: Valeri Brainin, Segmentieren des musikalischen Textes. Entwicklung des rhythmischen Denkens (unveröffentlichtes Manuskript). - Anm.d.Übers.

[12] Es ist darauf hinzuweisen, daß Elemente die in der Funktion ähnlich sind auch ein ähnliches Zeichen bekommen. Wenn ein Impuls am Anfang des Taktschlages liegt, so wird er immer mit "di" anfangen. Hier liegt der prinzipielle Unterschied zu den weit verbreiteten Systemen "di-li-don" oder "ti-ti-ta", wo die funktionelle Übereinstimmung der Elemente nicht zu sehen ist ("ti" ist das eine, "ta" ist etwas ganz anderes).

[13] Hier nur einige Äußerungen dazu: "Er (V.Brainin) hat die einzigartige Methodik und das Lehrsystem der Musiksprache für die Kinder erarbeitet. Dieses System hat sich ausgezeichnet in der Praxis bewährt" (D.Lichatschjov [eine der menschlich, wissenschaftlich und politisch bedeutendsten Persönlichkeiten Rußlands - Anm.d.Übers.]). "Die Vorzüge der Methodik V.Brainins sind verbunden mit der Idee der organischen Ganzheit des musikalischen Denkens, mit dem Bestreben, die durch neuzeitliche Methodiken künstlich errichteten Trennwände aufzuheben; künstlich geschaffene Trennungen zwischen den verschiedenen Seiten einer einheitlichen musikalischen Betätigung, d.h.: zwischen dem Lesen vom Blatt, dem inneren Hören, dem Verstehen, dem Schaffen. Hier zeigen sich viele originelle Entdeckungen" (W.Meduschewskij [einer der wichtigsten Musikpsychologen in Rußland - Anm.d.Übers.]). "Im Kern geht es dabei um die Kardinalfrage unserer gesamten musikalischen Zukunft. Einen resultativen Zugang zur Erziehung und Unterrichtung der Kinder zu finden - das ist möglicherweise der entscheidende Ausgangspunkt des Problems. V.Brainin hat es fertiggebracht, einen außergewöhnlichen Zugang zur Psyche der Kinder zu finden und ein konkretes Verfahren entwickelt, mit dessen Hilfe die verborgenen Fähigkeiten und Talente des Menschen zur Geltung kommen" (S.Gubaidulina).

[14] Über relativ viel des methodischen Materials verfügt das Gnessinsche Musikgymnasium und die Internationale Schule für Musik und Bewegung in Moskau, außerdem die Scuola di Musica di Fiesole [und Centro di Ricerca e di Sperimentazione per la Didattica Musicale - Anm.d.Übers.] in Florenz, die Wiener Musikhochschule und die Erste private Musikschule Hietzing in Wien.

[15] In München. - Anm.d.Übers.

[16] Auch  in den USA und Südafrika. - Anm.d.Übers.

[17] Gemeint ist hier die russische "musikalische Welt". - Anm.d.Übers.