Der folgende Essay reagiert auf ein schon lange zu beobachtendes, aber
noch nicht reflektiertes Phänomen – die „Neue Klassik“ – und soll ein Auftakt zum Festival – „Classica Nova“ sein.
Einen Vorgeschmack bot der internationale Musikwettbewerb „Classica Nova - in
memoriam Dmitri Schostakowitsch“ 1997 in Hannover (Initiator und künstlerischer
Leiter: Valeri Brainin, Veranstalter: die Niedersächsische Lottostiftung).
Über die Postmoderne, die Wahrnehmungskrise
und die Neue Klassik[1]
Kann man von einer Krise der
zeitgenössischen Kultur sprechen? Und: was ist eine Krise? Nehmen wir zunächst
als vorläufige Definition folgenden Satz: Eine kulturelle Krise tritt ein, wenn
der bisherige schöpferische Prozeß nicht mehr möglich und der neue nicht
wirklich schöpferisch ist. Daran knüpft sich die Frage, ob es konstruktiv ist,
die derzeitige kulturelle Wende als Krise zu bezeichnen.
Die Moderne wurde nicht nur von ihren Gegnern, sondern
auch von ihren Verteidigern als etwas Provozierend-Zerstörerisches
wahrgenommen. Aber „zerstörerisch“ heißt noch nicht „nicht schöpferisch“:
„Zerschlagen wir die alte Ordnung und bauen eine neue Welt!“ hierin liegt das
Pathos jeder Revolution. Und die Apologeten der Kunst von heute stellen fest,
daß die Moderne zwar wenige Anhänger hatte, aber trotzdem klassisch geworden
ist und behaupten, dasselbe werde auch mit der gegenwärtigen Kultur geschehen:
die Postmoderne sei nur eine weitere Etappe des Fortschritts. Das ist der
Standpunkt derer, die in einer linearen Zeitvorstellung leben, deren Konzeption
von Augustinus endgültig bestätigt wurde. Ohne die christliche Vorstellung von
der pfeilartig in die Zukunft gerichteten Zeit wäre die Vorstellung vom kulturellen
und wissenschaftlichen Fortschritt unmöglich. Man sollte nur nicht vergessen,
daß bei diesem Pfeil nicht nur ein Anfang, sondern auch ein Ende vorausgesetzt
wird. Ein anderer, nicht weniger optimistischer Standpunkt ist der Umberto
Ecos: jede Epoche kenne ihre eigene Postmoderne, heute gehe eigentlich nichts
Ungewöhnliches vor sich. Eco kommt hier von der zyklisch-organischen
Zeitvorstellung der Antike. Eine dritte Sichtweise geht davon aus, daß die
Postmoderne eine kulturelle Konstante sei. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
existieren gleichzeitig, „Alles passiert immer“ – wie zu mythischen oder
biblischen Zeiten. In diesem Sinne kann man auch bei Cervantes, Sterne, Heine
oder Dostojewski postmoderne Züge entdecken. Diese dritte Sichtweise ist hier
nur der Vollständigkeit halber angeführt und für die weiteren Betrachtungen
bedeutungslos. Wenn es „das“ schon immer gab, lohnt es sich nicht, darüber zu
sprechen. Zu analysieren wären die ersten beiden Sichtweisen.
Vergleichen wir wesentliche Parameter der Moderne
und der Postmoderne, so kann man folgende Gegensatzpaare bilden:
Moderne |
Postmoderne |
Skandalträchtigkeit Antispießbürgerliches Pathos Emotionale Ablehnung des Vorausgehenden Neuartigkeit als Position Erfindung neuer Stile Selbstdefinition: „Wir sind das Neue“ Ausgesprochener Elitarismus Vorrang des Ideellen vor dem Materiellen Glaube an große Kunst Faktische kulturelle Kontinuität Klare Trennung: Kunst-Nichtkunst |
Konformismus Fehlen von jeglichem Pathos Pragmatischer Gebrauch des Vorausgehenden Nachahmung als Position Zitat Selbstdefinition: „Wir sind alle“ Unausgesprochener Demokratismus Kommerzieller Erfolg Keine Utopie Ablehnung des bisherigen kulturellen ParadigmasAlles kann Kunst werden |
Dieser Baum kann beliebig
verlängert werden. Offensichtlich ist, daß viele charakteristische Merkmale der
Moderne auch in der Romantik, im Barock, im Manierismus usw. zu finden sind
ebenso wie viele Positionen der Postmoderne in der mittelalterlichen „Jahrmarkts-Karneval“
Kultur (nach Michail Bachtin). Nur existierten beide kulturellen Paradigmen in
der Vergangenheit gleichzeitig. Die Grenze zwischen ihnen war eine soziale, und
wegen dieser Grenze spielte das „postmoderne“ Paradigma entsprechend seiner sozialen
Marginalität auch kulturell eine marginale Rolle. Heute hat das zweite
Paradigma das erste fast vollständig verdrängt. Ein junger Mensch, der sein
Leben einer nichtkommerziellen Kunst verschreiben will, muß feststellen, daß
die Zeit geistiger Autoritäten vorbei ist. Will er Gehör finden, muß er
Banalitäten hervorbringen, und das ziemlich laut: Die Konsumenten diktieren dem
Künstler ihren Geist – „la mort de l’auteur“, wenn auch nicht im Sinne von
Roland Barthes. Die konsumierende Masse ist der eigentliche Autor. Riskieren
wir es und schlagen den Begriff „homo consumens“ für den vor, der heute den Ton
angibt.
Warren Beatty vergleicht in
seinen Interviews gerne die Situation der zeitgenössischen Kunst mit der der
Politik. Sein Held auf der politischen Bühne war „Bobby“
Kennedy, denn „he was a leader, he wasn’t led by demographic research and
public opinion polls“. Wenn er über den Film „Bulworth“ spricht, stellt er fest, daß
diejenigen, denen es obliegt, anderen einen Weg zu weisen, selbst von der
öffentlichen Meinung geführt werden. Doch so war es schon immer: Wer zahlt,
bestellt auch die Musik. Sehen wir uns einmal die Auftraggeber auf dem Gebiet
der Musik an. In ihrer historischen Reihenfolge waren dies: die Kirche (bis zum
18. Jh.), der Hof (im 18. Jh.), das Bürgertum (im 19. und zum Teil im 20. Jh.)
und die Masse der Jugendlichen, die mit ihrem „pocket dollar“ abstimmen
(heute). Liberté (des Künstlers) und Egalité (des Konsumenten) sind keineswegs
verpflichtet, nebeneinander zu stehen.
Wenden wir uns der zweiten
Sichtweise zu: „Jede Epoche kennt ihre eigene Postmoderne“. Hier haben wir eine
der eben beschriebenen entgegengesetzte Situation. Frederic Jameson schreibt in
„Postmodernism and Consumer Society“, daß die Moderne für die Generation der
68er zum Inbegriff des Establishment wurde, zu einem Monument, das, wenn es
nicht zerstört werde, neues Schaffen verhindere. Aber wenn die Postmoderne eine
zerstörerische Reaktion auf die Unproduktivität der vorhergehenden Kultur ist,
dann kann man die Moderne selbst ebenso wie die Romantik und den Barock als
eigene, begrenzte, als „lokale Postmodernismen“ ansehen, die die Glut
vorangegangener vulkanischer Prozesse hinter der versteinerten Lava ebenso
wenig anerkannten.
Aber davon unterscheidet
sich die heutige Situation durch ihre Globalität. Die „lokalen Postmodernismen“
der Vergangenheit waren stilvoll. Die Postmoderne ist „stillos“. Diese waren
voller Utopie: der Glaube an neue Ideale war ihr Pathos – ungeachtet der
Enttäuschung durch überkommene Ideale. Nicht daß die Postmoderne Ideale etwa
ablehnte, sie ist einfach jenseits aller Ideale. Diese waren in der Tat
„lokal“: Eine kulturelle Krise in einem
Land konnte von einer Stabilisierung in einem anderen begleitet werden. Die gegenwärtige
Situation erinnert an „L’Empire à la fin de la décadence“ (Verlaine). Der Untergang Roms war ein
globaler Fakt, der Zusammenbruch allen Glaubens, der Zusammenbruch der gesamten
oikoumene, war die Zeit allgemeiner
kultureller Entropie. Hier geht es nicht darum, der Postmoderne das Etikett
„kulturelle Barbarei“ zu verleihen. Die Entropie als thermische „Gleichheit“
der Moleküle ist ihrem Wesen nach demokratisch. „Cultura“ aber ist etwas
Bearbeitetes und Bearbeitendes, etwas Organisiertes und Organisierendes – etwas
Autoritär-Repressives. Kultur ist Kanon und jeder Kanon ist undemokratisch.
Heißt das nun, daß die Zivilisation, die Demokratie wählend, auf die Kultur in
der Bedeutung, die sie bis zur Epoche des Internets hatte, verzichten muß?
Um Verschiedenes nicht in
einem Begriff zu vermischen, versuchen wir, die Postmoderne in zwei
Erscheinungen zu gliedern: in eine akademische und in eine populistische.
Erstere ist nicht nur universitäre Selbstreflexion der Postmoderne, sondern
auch die Dekadenz der Moderne. An die Stelle des Neuen tritt ein Mosaik, ein
„pasticcio“ aus Altem. So wird die Postmoderne innerhalb des traditionellen
kulturellen Diskurses betrachtet, oder, genauer: innerhalb des Präkontextes,
der das hervorbrachte, was man heute als Postmoderne bezeichnet. Das Spiel mit
Zitaten (Cento) war allen kulturellen Epochen bekannt, nur tritt es jetzt vor
einen gänzlich neuen Hintergrund. Heute hat sich so viel kulturelle Information
angesammelt, die Geschwindigkeit ihrer Verbreitung ist derart gestiegen, daß
man ruhig von mindesten einer Krise sprechen kann: von einer Wahrnehmungskrise.
Hier ein Beispiel aus der Geschichte der musikalischen Sprache:
Sobald sich die Wahrnehmung des Auditoriums
automatisiert, d.h. sobald es schon weiß, in welcher Verbindung dieses oder
jenes Zeichen mit größter Wahrscheinlichkeit auftreten wird, entsteht ein
allgemeines Bedürfnis, diese Wahrscheinlichkeit zu verringern. Es folgt eine
Periode der Aneignung neuer sprachlicher Zeichen, nach der sich alles
wiederholt. Dies kann man durch zwei Kurven ausdrücken: eine symbolisiert das
Bedürfnis des Auditoriums, die andere das Bedürfnis des Komponisten. Es mag
scheinen, daß die Komponisten in ihren Bestrebungen, die Sprache zu erneuern,
schon immer radikaler waren, als das ergeben lauschende Publikum; das ist
jedoch eine Vorstellung aus jüngerer Zeit. Bach wurde zu seinen Lebzeiten
keineswegs etwa deswegen nicht anerkannt, weil er ein Neuerer, sondern, aus der
Sicht des Publikums, ziemlich altmodisch war. In der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts überkreuzten sich die Kurven und es kam eine Zeit labilen
Gleichgewichts. Für viele der Idealzustand (Hesse läßt in seinem
„Glasperlenspiel“ sogar mehrmals sagen, daß man als Musik nur das bezeichnen
kann, was bis zum Jahre 1800 geschrieben wurde). Nach 1800 blieb die Hörerkurve
zurück, die Komponistenkurve aber stieg stetig weiter. In diesem Zusammenhang
ist es möglich, folgende grobe Periodisierung der Entwicklung in der
musikalischen Sprache vorzuschlagen:
-
Bis
zum 19. Jahrhundert – eine allgemeine europäische musikalische Sprache und
einzelne Dialekte nationaler Kulturen.
-
Im
19. Jahrhundert – die musikalischen Sprachen der Nationalkulturen mit den
Dialekten einzelner Komponisten.
-
Im
20. Jahrhundert – individuelle musikalische Sprachen und die Dialekte einzelner
Kompositionen.
Der Prozeß von Vergehen und
Entstehen der Sprache könnte sich praktisch endlos fortsetzen, wenn er nur
irgendwie dem Generationenwechsel der Kulturen entspräche. Solange von einer
einzigen musikalischen Sprache die Rede war, konnte man darauf hoffen, sie
dadurch, daß man sich mit einem zwar großen, aber doch noch überschaubaren
Massiv von musikalischen Texten vertraut machte, zu verstehen. Schon für das
19. Jahrhundert ist dies problematisch, für das 20. aber einfach unmöglich.
Entweder muß man schon tote Sprachen eigens erlernen, wie ein musikalisches
Latein, oder man begnügt sich mit einer Art „Pigeon Music Language“. Das eine
wie das andere ist postmodern, entspricht entweder dem akademischen oder dem
populistischen Paradigma.
War es früher für eine
adäquate Wahrnehmung nötig, die Quellen der Zitate und Allusionen zu kennen –
und im Prinzip lag ein solches Wissen im Bereich des Möglichen, so ist es heute
sowohl unmöglich als auch unnötig. Der Autor kann immer eine Auswahl treffen,
an der sich selbst ein qualifizierter „Partner“ die Zähne ausbeißt. Aus der
Parodie auf die klassische Moderne (und das war ja der Anfang der Postmoderne)
ist der Humor verschwunden und das Parodieren der Schreibwut (z.B. in der
Soz-Art) hat sich soweit an das Original angenähert, daß es bis zur
Unkenntlichkeit mit ihm verschmolzen ist. Aber anstatt über globale Plagiate
und Graphomanie zu lamentieren, ist es besser, vom „Tod des Autors“ zu
sprechen.
Der bislang nie dagewesene
Informationsüberfluß hat dazu geführt, daß der durchschnittliche kulturell
interessierte Konsument dem Tempo sich ständig entwickelnder Sprachen in den
verschiedenen Künsten nicht mehr folgen kann. Geht es um die zeitgenössische
akademische Kunst, so hat dieser durchschnittliche Konsument keine eigenen
Maßstäbe mehr. Noch vor ungefähr 40 Jahren konnte seine Bewertung richtig oder
falsch sein, seine Einschätzung scharfsinnig oder ungereimt, aber er durfte sie
als seine eigene Beurteilung ansehen. Er konnte sich selbst vertrauen. Er konnte
sich langweilen oder interessieren, aber er wußte, warum er gelangweilt oder interessiert war. Heute langweilt er sich
aus Nichtverständnis, und selbst wenn er weiß, daß er nichts versteht, kann er
es aus Gründen des Prestiges nicht zugeben.
Diese Situation eröffnet
Kulturscharlatanen unbegrenzte Möglichkeiten, den orientierungslosen
Konsumenten zum Narren zu halten. Der Titel „Künstler“ ist immer noch ein
gesellschaftliches Statussymbol, entspricht aber nicht mehr den wirklichen
Gegebenheiten. Viele heutige „Künstler“ sind Rentiers, die von einem nicht von
ihnen geschaffenen geistigen Kapital leben. Die fehlende Urteilsfähigkeit der
Konsumenten hier und die Scharlatanerie dort bilden einen Teufelskreis, den man
nur durch zielgerichtete Ausbildung, d.h. durch „autoritär-repressive“,
„undemokratische“ Anstrengungen durchbrechen könnte. Was zu tun?
Die zweite Erscheinung, die
populistische also, ebenso mit dem Wort „Postmoderne“ belegt, ist ein diffuses
gegenseitiges Durchdringen der fundamentalen Kultur und der Popkultur. Sie
unterscheidet sich derart gravierend von der oben beschriebenen, daß man sie
eigentlich „Post-Postmoderne“ nennen müßte. Hier erweist sich der Konsument
nicht länger als Opfer eines Scharlatans, sondern als Diktator. Wenn Joyce oder
Mahler Phänomene der kommerziellen Kultur collagieren, sie als Zeichen
verwenden, bleibt doch das „Fleisch“ die hohe Kunst; die „Post-Postmoderne“ ist
jedoch so weit mit kommerzieller Kultur durchsetzt, daß die Grenze zwischen
„Zeichen“ und „Fleisch“ verschwimmt. Es stimmt, diese Kultur ist demokratisch,
aber Demokratie ist nicht immer harmlos. Unlängst hat sich in der Geschichte
gezeigt, wie die Demokratie, sich nicht schützen wollend oder könnend, zur
Selbstmörderin wurde. Dasselbe kann aber auch geschehen, wenn die Demokratie
zur Ochlokratie verkommt, so aber aus Gründen der political correctness nicht
genannt wird.
All dies berücksichtigend und zum Ausgangspunkt
zurückkehrend, kann man nicht nur von einer Krise der Wahrnehmung, man muß von
einer Krise der Kultur sprechen, zumindest im Sinne der schon angeführten
vorläufigen Definition: „Eine kulturelle Krise tritt dann ein, wenn der
bisherige schöpferische Prozeß nicht mehr möglich und der neue nicht wirklich
schöpferisch ist.“ Man kann über das kreative Potential der Postmoderne
streiten, doch wenn sie nach dem althergebrachten Verständnis vom kulturellen
Prozeß nicht kreativ ist, so muß man wenigstens von einer Krise des
althergebrachten Verständnisses vom kulturellen Prozeß sprechen. Ist schöpferische
Kunst heute noch möglich? Das hängt nicht von den Absichten der
Kunstproduzenten, sondern vor allem von den Bedürfnissen des wahrnehmenden
Publikums ab. Ist es möglich, dessen Bedürfnisse ohne – und sei es verdeckten –
Druck zu formen? Die Industrie der Popkultur arbeitet schon lange an Modellen
geschickt verdeckten Druckes. Auch in der Geschäftswelt ist dies gang und gäbe:
wenn im Supermarkt zum Beispiel zum kostenlosen Probieren eingeladen wird,
obwohl alle wissen, daß Käse nur in der Mausefalle umsonst ist.
Nun zur praktischen Idee.
Dank der neuen Möglichkeiten, Informationen zu speichern und sie in jedem
beliebigen Moment abzurufen, wird alles unterschiedslos „in einen Topf gerührt“
– alte und neue Kunst, verschiedene Strömungen der Nationalkulturen und die
Popkultur. Darin liegt natürlich auch ein positiver Aspekt: die Vergrößerung
der Auswahl. Allein, diese Vergrößerung hat ihre Nebenwirkung: in einem
Orientierungsverlust. So entsteht eine allgemeine Sehnsucht nach der
verständlichen Kultur des Vergangenen. Sogar in der Werbung werden
unterschiedliche Produkte – von der Seife bis zur Suppe – mit dem Etikett
„klassisch“ versehen. Im Bewußtsein des Konsumenten herrscht die Vorstellung,
Klassisches sei durch die Zeit geprüft und zu einem unvergänglichen Wert
geworden. Paradoxerweise gehören das Wort „klassisch“ und selbst das klassische
Erbe heute zur Popkultur. Doch auch in der Abwertung behält der Begriff noch
einen Wert.
In dem Begriff
„Neue Klassik“, der hier eingeführt werden soll, vereinigt sich das
Überprüft-Sichere mit der Idee des Neuen und gleichzeitig „Immer-Gegenwärtigen“
(Thomas Mann über die Klassik). Neue Klassik ist das kulturell Neue, das selbst
lange lebt und neues Schaffen inspiriert. Es sind für uns die kulturellen Phänomene, die vor etwa 80 Jahren entstanden, bis
zum heutigen Tag lebensfähig und von Bedeutung für das Entstehen neuer
kultureller Werte sind (der Begriff „klassische Moderne“ bedeutet bekanntlich
etwas anderes). 80 Jahre sind der ungefähre Zeitraum eines menschlichen Lebens.
Neue Klassik bleibt so lange neu, wie der letzte Mensch noch lebt, für den sie
einst neue Kunst war und für den sie nach wie vor lebendig ist. Nach 80 Jahren
gehen jene Kulturphänomene, die in dem Moment, da Sie diese Zeilen lesen, neu
entstehen und denen es gelingt, ihre Lebensfähigkeit zu beweisen, aus der Neuen
in die allgemeine Klassik über.
Die Altersgrenze von 80 Jahren verschiebt sich
unaufhörlich in die Zukunft, Neue Klassik gab es zu jeder Zeit. Die Frage, was
der Neuen Klassik im einzelnen zuzurechnen ist und wer dies bestimmt, wird hier
nicht diskutiert. Viele Werke der „hohen“ Postmoderne (wie zum Beispiel
Nabokovs „Ada“ oder die „Concerti grossi“ Schnittkes), sowie vielleicht einige
aus dem Grenzbereich der Postmoderne zur „Post-Postmoderne“ gehören dazu. Es
ist vernünftig anzunehmen, daß der Konsument froh sein wird, im heutigen Ozean
kultureller Werte eine sichere Insel zu entdecken, z.B. in Form eines
„Festivals“ verschiedener Künste und Geisteswissenschaften, bei denen man auf
einen Blick das Beste von dem erfassen kann, was vor kurzem erst entstanden ist
und Perspektive hat.
All das hat auch einen
ethischen Aspekt, auch wenn es widerlich ist zu moralisieren. Die Postmoderne
verhält sich gleichgültig gegenüber dem kulturhistorischen Prozeß. Was er
hervorgebracht hat, ist für sie nur ein Steinbruch. Hier soll nicht erörtert
werden, wodurch sich ein Mensch zu einer ethisch gefestigten Persönlichkeit
entwickelt, aber wenn wir von Kultur und Ethik sprechen, ist zumindest folgende
Möglichkeit offensichtlich: durch das Gefühl persönlichen Involviert-Seins in
den kulturhistorischen Prozeß. Einem totalen „Nein“ muß man ein alternatives
„Doch“ entgegenstellen. Letztendlich entsprang die Postmoderne nicht
irgendeiner persönlichen Absicht, sie ist einfach die Reaktion des homo
consumens auf den Zynismus der Zeitgeschichte und den Mangel an Zeit für eine
kulturelle Orientierung.
Aus dem Russischen von
Rudolf Neumann,
redigiert von Verena Dohrn
und Dieter Hufschmidt