Copyright © 1999 Waldemar Merk (Stuttgart), Rudolf Neumann (Hannover) 

 

Brainin-Musikschule – Vergangenheit und Gegenwart 

 

Conference Proceeding of the International Conference for Music Education, Moskau 1999 [Text auf Deutsch. Zusammenfassung auf Englisch und Russisch].

 

1. Geschichte der Methode (von Waldemar Merk)

 

Die Anfänge der Brainin-Methode liegen bereits 25 Jahre zurück, in den 70er Jahren. Von 1974 - 1976 hatte Brainin die wichtigsten Prinzipien seiner Methode entwickelt und damit ein Fundament geschaffen, das für die weitere Entwicklung seiner Methode von großer Wichtigkeit war. Wichtig dafür war, daß er nicht nur Musiktheorie und Komposition studierte, sondern auch Linguistik  und Mathematik. Nach dem Studium (in Nizhnij Tagil und Sverdlovsk) unterrichtete er in Tiraspol (Moldavien) an einer Fachhochschule für Musik. Einige Zeit später ging er nach Moskau, wo er in verschiedenen Lehranstalten unterrichtet hat – u.a. an der Speziellen Mittleren Musikschule für hochbegabte Kinder (namens Gnessin).

 

Der große Vorteil der Brainin-Methode liegt darin begründet, daß Sie nicht in einer künstlichen Hochschulwelt entwickelt wurde, sondern in der real existierenden und lebendigen Musikerziehungspraxis. Die Methode wurde unter verschiedensten praktischen Bedingungen erprobt und für die Musikerziehungspraxis geformt. Durch die praktischen Ergebnisse der Methode wurde auch so langsam die Fachwelt hellhörig. So ist es nicht verwunderlich, daß mit der Zeit nicht nur Schüler zu Valeri Brainin kamen, sondern auch neugierige Musikpädagogen, die diese Methode lernen wollten. Diese Lehrer fingen an selbst zu lehren und damit die Brainin-Methode zu verbreiten. So gibt es heutzutage Musikpädagogen nicht nur in Moskau und St. Petersburg, sondern auch in verschiedenen Republiken der ehemaligen Sovjetunion, wie Moldavien, Litauen und Ukraine. Das Ausmaß der Verbreitung ging später auch weltweit – in Deutschland, Italien, Österreich, Portugal, die USA, Südafrika und Australien.

 

Im Jahr 1990 kam Valeri Brainin in die Bundesrepublik Deutschland. Er hat sich in Norddeutschland, in der Stadt Hannover niedergelassen, wo er bis heute lebt und wirkt. So begann er auch hier seine Methode zu unterrichten und damit auch zu verbreiten. Er leitete viele Seminare und jährliche Meisterkurse an verschiedenen weltweiten Institutionen. Außerdem wurde er als Referent zu internationalen Kongressen eingeladen. Vom 1991 bis 1996 trat er mit wöchentlichen Musikessays in Radio Liberty aus München und Prag auf.

 

2. Inhalt der Methode (von Rudolf Neumann)

 

Valeri Brainin hat eine eigene Methode entwickelt, nach der Kinder die Musik von Anfang an als etwas ganzheitliches wahrnehmen. Musikalische Elemente werden mit Hilfe von Sprache, Gesang, Gestik, eigener Ausführung am Instrument gelernt. Der Unterricht beginnt ganz einfach und jedes Kind kann die Aufgaben lösen, denn eines der Merkmale der Methode ist, daß schwierige musikalische Elemente in kindgerechte Formen verpackt werden, in Märchen, Abzählreime, anschauliche Erläuterungen. Dabei werden die einzelnen musikalischen Elemente nicht aus ihrem Gesamtzusammenhang gerissen: es werden nicht einfach Viertelnoten, halbe Noten, ganze Noten gelernt, sondern einfache rhythmisch zusammenhängende Formeln, wie sie auch in praktischer Musik vorkommen; die Tonstufen werden zunächst anhand einfacher Kinderlieder angeeignet und später immer in Beziehung zum Grundton gesungen, um so ein für Kinder wichtiges Tonalitätsgefühl zu entwickeln; Harmonien und Funktionsakkorde werden ebenfalls stets in Beziehung zur Tonika gesetzt, um die Funktion einer Harmonie am Anfang konkret und in einem bestimmten Zusammenhang zu erfassen (später können die Funktionen umgedeutet werden, als Grundlage einer musikalischen Wahrnehmung sind jedoch Stereotypen wichtig). Grob lassen sich in der Frühausbildung drei eigenständige Bereiche unterscheiden, wobei jeder einzelne verschiedene Unterformen der Ausarbeitung hat. Die drei Bereiche sind: 

 

1.                         Entwicklung des Rhythmischen Denkens (Wahrnehmung und Artikulation rhythmischer Phrasen)

2.                         Entwicklung des tonalen Gefühls (Wahrnehmung und Artikulation der melodischen Stufen eines  musikalischen Abschnitts)

3.                         Entwicklung der absoluten Orientierung im Tonraum (Absolutes Gehör)

 

Für jeden dieser Bereiche hat Brainin originelle Arbeitsmethoden entwickelt, deren Effektivität er und seine Schüler bereits in langjähriger Praxis bewiesen haben.

Als wichtiges Unterrichtsprinzip ist die Orientierung am gemeinsamen kulturellen Gut anzusehen: Es werden Beispiele verwendet, die der klassischen Musik entnommen sind, so daß die Kinder schon früh mit Mozart, Tschaikowsky, Bizet und Sibelius vertraut werden, sie lernen die Kinder- und Abzählreime ihres Sprachraums kennen. Unbekannte Worte werden erklärt, der Unterricht dient nicht nur der musikalischen Entwicklung, sondern der gesamten geistigen Entwicklung der Kinder. "Die Vorzüge der Methodik V.Brainins sind verbunden mit der Idee der organischen Ganz­heit des musikalischen Denkens, mit dem Bestreben, die durch neuzeitliche Methodiken künstlich errichteten Trennwände aufzuheben; künstlich geschaffene Trennungen zwischen den verschiedenen Seiten einer einheitli­chen musikalischen Betätigung, d.h.: zwischen dem Lesen vom Blatt, dem inneren Hören, dem Verstehen, dem Schaffen. Hier zeigen sich viele originelle Entdeckungen" (W.Meduschewskij, „Musikalnaja akademija, 1993, Nr. 1, Moskau, S. 164).

 

Die Erfolge dieser Methode sind verblüffend: Durch spezielle Übungen entwickelt sich bei 80 Prozent der Schüler das absolute Gehör, oder zumindest nahezu. Mit Hilfe der Brainin-Methode können sich die Schüler mindestens 70 verschiedene Arten von Tonleitern aneignen, außerdem hat Brainin originelle Verfahren zum Erlernen von Intervallen und Akkorden (über 500 verschiedene Typen) - sowohl nacheinander wie auch simultan erklingend - entwickelt. Das Erfassen der Harmonien erfordert ab einem bestimmten Zeitpunkt das Praktizieren harmonischer Improvisationen. Mit der Brainin-Methode sind interessante Zugänge zur Ausbildung des polyphonen Denkens möglich. Für die Arbeit  mit Kindern hat Brainin spezielle Hilfsmittel entwickelt (Patent RU Nr. 2075785 C1): ein Notenlinienbrett mit beweglichen Knöpfen, die die Noten darstellen („Das Glasperlenspiel“), und einen sogenannten „tonalen Rechenschieber“, der die tonalen Beziehungen der einzelnen Stufen in jeder Tonart zeigt. 

 

3. Situation der Musikschulen in Deutschland (von Waldemar Merk)

 

Die gegenwärtige Situation der Musikschulen und der Musiklehrer ist vom Arbeitsplatzabbau bzw., wie es in Neudeutsch heißt, von Umstrukturierungsmaßnahmen bestimmt. Es werden überall Lehrerstellen gestrichen, das eine zunehmende Arbeitslosigkeit unter den Musiklehrern nach sich zieht. Dadurch haben die heutigen Musikstudenten in zunehmendem Maße pessimistische Berufsperspektiven. Jedoch wie wir wissen, hat jede Medaille zwei Seiten. So auch in diesem Fall. Einerseits werden immer mehr staatliche Lehrer entlassen, andererseits werden neue private Musikschulen eröffnet.

 

Bis heute ist es noch so, daß die staatlichen Lehrerstellen sicherer und sozialer sind. Aus diesem Grund bewerben sich noch viele Musiklehrer für die staatlichen Stellen. Beide Gruppen, sowohl die staatliche als auch die privaten Musikschulen, sind den Gesetzen der freien Wirtschaft ausgesetzt. Andererseits haben die staatlichen Schulen einen finanziellen Vorteil in Form von staatlichen Zuschüssen. Diesen Nachteil gleichen die privaten Schulen durch effizienten Umgang mit ihren Ressourcen aus, denn hier ist kein Platz für das Beamtendenken da. Es sind Fälle bekannt wo staatliche Musikschulen einzelne Fachbereiche zur Übernahme der privaten Konkurrenz angeboten haben. Dieses Phänomen zeigt unter anderem, daß die staatlichen Schulen schlecht und uneffektiv organisiert sind. Trotz aller ungünstigen Umstände birgt die heutige Zeit aber auch neue Möglichkeiten, die es gilt zu nutzen.

 

4. Die Gründung der Brainin-Musikschule (von Waldemar Merk)

 

Nach der Übersiedlung in die BRD, im Jahre 1990 gründete Valeri Brainin kurze Zeit später im gleichen Jahr eine eigene Musikschule. Die Anfänge waren, wie es fast immer der Fall ist, sehr bescheiden, in den eigenen vier Wänden. Doch dabei sollte es nicht bleiben. In all den Jahren des Neubeginns in Deutschland hatte Valeri Brainin immer wieder mit verschiedenen Widerständen zu kämpfen. Die Widerstände in diesem Zusammenhang sind unter anderem zu nennen: 

 

a)   Haltung der deutschen Bevölkerung zur Musik und allgemein zur Kultur

b)  Fachkreise

c)   der freie Markt mit all seinem breiten Angebot an das Massenpublikum, mit dem es sich gewöhnlich mehr und leichter Geld verdienen läßt

 

Trotz allem hat sich Valeri Brainin im Laufe der Zeit einen Namen und einen Ruf auch hier im Westen erarbeitet.

 

Auch im Falle Brainins, mit seiner anspruchsvollen Haltung der Kultur und Musik gegenüber, hat sich seine Konsequenz und Beharrlichkeit letzten Endes bezahlt gemacht. So kam es dann, wie es kommen „mußte“ zur Expansion der privaten Brainin-Musikschule. Valeri Brainin übernahm damit 1998 die größte und älteste Privatmusikschule Niedersachsens, die Musikschule an der Marktkirche e.V., die zur zeit „Musikschule Brainin e.V. / Brainin Music School“ heißt. Bis auf den heutigen Tag hat die Brainin-Musikschule 200 Schüler und 15 Musiklehrer. Nahezu zeitgleich wurde eine Filiale der Brainin-Musikschule in Süddeutschland, in der Nähe von Stuttgart, von einem langjährigen Schüler Brainins, Waldemar Merk eröffnet. Bei dieser ersten Filiale blieb es nicht. Nach ca. 1½  Jahren wurde im September 1999 eine zweite Filiale eröffnet.

 

Im Zusammenhang mit der freien Wirtschaft muß man erwähnen, daß auch eine private Musikschule mit einem hohen Kulturanspruch den rauhen Bedingungen des freien Marktes unterworfen ist, wie ein ganz normales Unternehmen. Dieser Zustand ist zwar auf den ersten Blick eine Belastung, birgt aber auch seine eigenen Möglichkeiten in sich. Es sei an dieser Stelle nur kurz erwähnt, weil es ein Thema für sich wäre, daß die Frage des Marketing, der Erfolgsstrategie und die konsequente Umsetzung dieser von großer Bedeutung ist. Die Entwicklung der Brainin-Musikschule hat trotz allem den Beweis geliefert, daß es auch in der freien Wirtschaft so etwas möglich ist.