Copyright © Valeri Brainin (1991)
Copyright © Verena Dohrn (Übersetzung) (1991)

 

Die Methode graphischer Darstellungen 

als Mittel zur Entwicklung des musikalischen Gehörs. 

Das mikrochromatische Gehör. Das ‘farbige’ gehör 

Die Methode graphischer Darstellungen ist keine Neuigkeit in der Musikdidaktik. Auch die Notenschrift ist eine gra­phische Darstellung. Allgemein bekannte Modelle der musikalischen Skala ha­ben das Aussehen einer Leiter. Zu solch einem Typ von Modellen zählt auch die bulgarische "Stolbiza". Zu einer anderen Kategorie anschaulicher Modelle gehört das Bild der Klaviertastatur, altertümli­cher Tabulaturen, ebenso die Darstellung von Gitarrenakkorden für Laien heutzutage. Alle diese Modelle haben eine Unzulänglichkeit gemein: Sie bringen die Wechselbeziehung von Strebung und Abstoßung der Stufen des musikalischen Tonhöhensystems nicht zum Ausdruck. Der Autor der vor­liegenden Arbeit emp­fiehlt folgendes relative Modell, geeignet für alle Tonarten, doch der Anschaulichkeit halber in C-Dur (c-Moll) dargestellt (siehe Zeichnung 1). 

Jener Umstand, daß die Tonika sich im Zentrum des Systems befindet, soll keine Verwirrung stiften. Dieses Modell (der Größe des Kindes angemessen) braucht man für das Solfeggieren, und die Tonika kann erscheinen, wo sie will - als die tiefste Note einer konkreten Melodie, als die höchste oder im Zentrum. Diesem Modell können alle natürlichen authentischen Modi entnommen werden: die ionische, lydische, mixolydische, äolische, phrygi­sche, dorische und genau so die alterierten Tonarten. In der praktischen Arbeit geht der Autor mit Modellen des ge­wöhnlichen Dur und natür­li­chen Moll um (siehe Zeichnung 2). 

Im ersten Unterrichtsjahr, in der Vorschulklasse des Gnessin-Musikgymnasi­ums für besonders begabte Kinder in Moskau, eigneten sich die fünfjährigen Kinder eben diejenigen drei Modelle an, die man bei uns "Dur-Häuschen", "Moll-Häuschen" und "Gesamthäuschen" nennt. Entsprechend wird das Repertoire für das Solfeggieren so angeordnet, daß die Tonika eine zentrale Lage in der Melodie ein­nimmt, wozu der Autor spezielle Überlegungen an­stellt. Zum Beispiel wird für das Solfeggieren im "Gesamthäuschen" das Stück "Clowns" von Kabalewski benutzt.  

Diese Modelle komplizieren sich im weiteren und werden chro­matische Modelle, werden jedoch schon nicht mehr wie Diagramme zum Solfeggieren, sondern wie eine anschauliche Darstellungeines Tonhöhensystems benutzt. Die Einführung chromatischer Töne wird durch das folgende Bild erklärt (siehe Zeichnung 3). Das Modell ist so ein "Häuschen". Die bemalten Kästchen sind die "Wohnungen", die leeren Kästchen die "Fahrstühle". Mit dem "Fahrstuhl" kann man nur in die benachbarte Etage fah­ren. Zum Beispiel von der Etage "d" (man be­nutzt bei uns relative Benennungen der Tonleiterstufen, aber das ist im gegebenen Falle unwichtig) auf die Etage "c" (in C-Dur). Aber nicht umgekehrt, denn zwischen "d" und "c" kann der Fahrstuhl sich nur nach unten bewegen, was im Diagramm durch die nach unten gerichtete Spitze des ent­sprechenden Dreiecks ausgedrückt ist. Um in die entge­gengesetzte Richtung zu fah­ren, muß man den besonderen Fahrstuhl "cis" in Gang setzen. Im Diagramm ist ebenfalls zu sehen, daß "cis" höher ist als "des", und "dis" höher als "es" Die Spitze des Dreiecks symbolisiert die chromatische Stufe, das Zentrum des entsprechenden Dreiecks oder des Rechtecks die diatonische Stufe. 

Das gesamte Dur- wie auch das gesamte Moll-Modell schließen jeweils in sich 17 verschiedene Stufen in jeder Tonart ein (im Diagramm sind die wechselseitige Symmetrie von Dur und Moll und ebenso die Unterschiede in den Bedeutungen ein und derselben Töne dargestellt: "e", zum Beispiel, ist in C-Dur eine diatonische Stufe, deshalb wird es durch die Mitte des Dreiecks sym­bolisiert; aber dasselbe "e" in c-Moll ist eine chromati­sche Stufe, und wird deshalb durch die Spitze des analo­genDrei­ecks symbolisiert. Dieselben 17 verschiedenen Stufen würden sich im voll­ständigen lydischen, phrygi­schen etc. Modell ergeben. Ähnliches kann man in dem arabisch-iranischen musika­lischen Tonhöhensystem beo­bachten, in dem diese 17 Töne ohne nivellierende Temperaturen benutzt werden. 

Wenn man analoge Modelle für alle sechs authentischen na­türlichen Tonarten darstellt (die hypophrygische, die die plagale ist, ausgeschlossen) und sie in einem einzigen Diagramm vereint darstellt, so erhalten wir (ohne Berechnung der sich wieder­holenden Stufen) ein Tonhöhensystem aus 22 ver­schiedenen Tönen, das mit dem indischen System "Schruti" identisch ist. In dem System mit der Tonika "c" bildet es folgende Reihe (in unserem Diagramm von "b" bis "a"): b - ais - ces - h - c - des - cis - eses - d - es - dis - fes - e - f - eis - ges - fis - g - as - gis - heses - a (siehe Zeichnung 4).

Es ist offensichtlich, daß dieses Modell, angewandt auf alle Tonarten, ein außerordentlich kompliziertes und ver­worrenes Tonhöhensystem ergibt. In der realen Praxis ist es so. Doch die Temperatur vereinfacht, wie bekannt ist, die Situation. Wie sollte die Temperatur beschaffen sein, die es ermöglicht, in jeder Tonart alle 22 verschiedenen Stufen zu benutzen? Der sowjetische Musikwissenschaftler A.S.Ogolewez empfahl bereits in den 1930er Jahren die 29-Ton-Temperatur, die eine notwendige und hinreichende Bedingung für die Lösung der gestellten Aufgabe ist[1]. So sähe es auf der Klaviertastatur aus (siehe Zeichnung 5).

Töne, die man traditionell für enharmonische Verwechselungen hält, erweisen sich hier als unterschiedliche, weil die chromatischen und diatonischen Halbtöne einander nicht gleichen - der diatoni­sche Halbton teilt sich in zwei "Mikrotöne", und der chroma­tische in drei. Daher erscheinen neue enharmonische Verwechselungen, und zwar (wenn man sie auf die doppelten Vorzeichen begrenzt): eses/hisis, feses/cisis, geses/disis, ases/eisis, ce­ses/gisis, deses/aisis. Die Tasten, die nicht in das 22-Tonsystem der Tonika C führen, werden in anderen Tonarten benötigt. Ogolewez schlug solch eine Temperatur zur Aufführung traditioneller Musik vor. Meines Erachtens ist die Vorstellung, daß ein Pianist umlernt, um mit solch unbe­quemem Fingersatz zu spielen, relativ unwahrscheinlich, ob­gleich bei einem solchen Stimmen des Instrumentes alle tonal-harmonischen Strebungen auch schärfer klängen, und die Harmonie an die eines Orchesters erinnern würde. Ein Instrument solcher Art wäre - unbestreitbar - für die Aufführung außereuropäischer Musik geeignet. Nur wissen wir nicht, ob es notwendig ist. Das könnten nur Musiker ent­scheiden, die in der entsprechenden Tradition ausgebildet sind. Jedoch könnte man auf dieser Tastatur eine Musik auf­führen, die speziell für sie komponiert wurde. Außerdem können alle diese mikrochromatischen Intervalle wirklich von der Mehrheit der Orchesterinstrumente gespielt werden. Das heißt, daß ein solches experimentelles Instrument die Werkstatt eines Komponisten werden kann, der Mikrotonmusik komponiert.

Die vorhandenen mikrochromatischen Systeme er­scheinen dem Autor dieser Arbeit nicht überzeugend. Sie alle stellen sich künstliche proportionale Teilungen einer 12-Ton-Temperatur vor. Eine natürliche Mikrochromatik kann nur aus derjenigen Wurzel hervorgehen, aus der die 12-Ton-Temperatur als die logische Verallgemeinerung eines wirk­lich existierenden Tonhöhensystems erwachsen ist. Die 12-Ton-Temperatur nivellierte die tonal-harmonischen Strebungen, die in dem nichttemperierten 17-Ton-System vor­kommen, von dem Bach und seine Zeitgenossen realen Gebrauch machten ("des" wird höher gestimmt als im System des Pythagoras und "cis" niedriger). Denkbar ist eine andere Temperatur, in der 17 Töne vorkommen ("des" wird niedriger gestimmt als "bei Pythagoras" und "cis" höher). Bei einer solchen Temperatur wird das pythagoräische Komma erhalten und die tonal-harmonischen Strebungen verschärfen sich. Ein Tasteninstrument mit einer solchen Stimmung ist von Ogolewez gebaut worden. Ein Vorteil der 12-Ton-Temperatur jedoch ist die Möglichkeit, den Modulationszyklus mit Hilfe der enharmonischen Modulationen dank der Teilbarkeit der Zahl 12 durch 2, 3, 4, 6 zu vervollkommnen. Die 29-Ton-Temperatur schließt alle vorausgegangenen Systeme und außerdem noch das neue, das 22-Ton-nichttemperierte,in sich ein. In der zeitgenössischen Musik gibt es das Problem der korrekten Modulation nicht, folglich ist es auch nicht so wichtig, ob die Anzahl der Töne in einer Oktave teilbar ist oder nicht. Daher ergibt sich eine zusätzliche Möglichkeit - eine neue natürliche Dissonanz des 29-Ton-temperierten Systems. Außerdem provozierte die 12-Ton-Temperatur bei allen ihren Vorzügen aufgrund ihrer mathematischen Klarheit auch speku­lative Experimente. Für die klassischen Komponisten entstand das Problem der 22-Ton-Tonalität (ein Problem, des­sen man sich nicht bewußt ist, hört nicht auf, ein Problem zu sein) erst in dem Moment, als das Monopol Dur-Moll ins Wanken zu geraten begann, als andere mit Hilfe von Dur und Moll bereits zu eigen gemachte Tonsysteme mit der ihnen eigenen Chromatik in den musikalischen Alltag Eingang zu finden begannen. Heutzutage stellt sich das Problem einer neuen Tonalität, scheint mir, mit besonderer Schärfe. Das tonale Erleben ist, was seinen Reichtum und seine Intensität betrifft, mit keinem anderen Musikerleben vergleichbar. Außerdem stellte sich das Problem, nicht nur ein europäi­sches, sondern ein universales musikalisches Tonhöhensystem zu schaffen, das logisch all die Systeme zusammenfaßt, die tatsächlich in den verschiedenen Musikkulturen vorkommen. Die 29-Ton-Temperatur faßt die Pentatonik, die Heptatonik, die europäische Chromatik, das arabisch-iranische System und das indische System "Schruti" zusammen. Es mag sich zeigen, daß ich solche, nicht im Schema eingetragenen Skalen wie die javanischen "Slendro" und "Pelog" und auch die türkische 24-"Tonleiter" zu erwähnen vermeide. Hier ist nicht der geeignete Ort, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, doch, sobald die Rede von univer­salen Tonhöhensystem ist, muß angemerkt werden, daß ich die javanischen Tonarten für eine Spielart - wenn auch nicht für eine pythagoräische - der Penta- und der Heptatonikhalte, doch besitze ich leider nicht genü­gend experimentelles Material, vor allem kein Instrumentarium, um die Hypothese einer in dieser musikalischen Kultur irgendwie, für uns mögli­cherweise unerwartet existierenden "metrischen", "räumlichen" oder doch irgendwie symbolischen "Temperatur" zu verifizieren. Und, was die tür­kische Skala betrifft, so wäre es verlockend, in ihr eine nichttempe­rierte Variante des 12-Ton-Systems zu sehen, das die authentische Heptatonik zu einem Ganzen zusammenschließt, jedoch ist sie eine Spielart der 22-Ton-Chromatik, die entweder nicht gänzlich systematisiert ist, oder die, im Gegenteil, die Entwicklung des Tonhöhensystems in eben die­ser Richtung fortsetzt: sowohl in dem einen wie in dem anderen Fall ist sie in der 29-Ton-Temperatur angelegt, aber das ist bereits Thema eines gesonderten Gespräches. 

Wie dem auch sei, so könnte ein Tasteninstrument mit 29-Ton-Temperatur doch eine ausgezeichnete Unterstützung in der pädagogischen Praxis sein, sowohl für die Entwicklung des tonal-harmonischen Gehörs im traditionellen Sinne als auch für die Entwicklung des mikrochromatischen Gehörs. 60 Jahre lang, von dem Moment an, in dem Ogolewez seine Ideen be­kanntgab, ist es nicht gelungen, sie zu verwirklichen. Im Jahre 1979 baute ich tatsächlich eine gleichschwebend temperierte Gitarre mit 29 Tönen in der Oktave, um mich selbst von der Richtigkeit dieser Idee zu überzeugen. Mit ihrer Hilfe habe ich auf dem Gebiet der Entwicklung des mikrochromatischen Gehörs bei Kindern experimentiert und erreichte, daß meine Schüler 17 Töne in der Oktave unterscheiden konnten, d.h. sieben Töne in der Quarte. Ich habe mich davon überzeugt, daß das In­tervall von 41,4 Cent, welches bei dieser Temperatur entsteht, ausreichend charakteri­stisch für die getrennte Wahrnehmung der kleinen Sekunde und der übermäßigen Prime ist. Trotzdem, ist in der Arbeit zur Entwicklung des Gehörs die Gitarre wenig geeignet. In unserer Zeit kann diese Idee leicht mit den Mitteln der Elektronik verwirklicht werden. 

Schließlich zum Problem des "farbigen" Gehörs und der Möglichkeit seiner Entwicklung. Wie bekannt, begegnet man dem Phänomen der Synästhesie nur allzu häufig. Über das far­bige Gehör Rimski-Korsakows wissen wir durch die Darlegungen Jastrebzews. Skrjabin erzählte selbst von seinen farbmusika­lischen Empfindungen. Bei allen anscheinenden Zufälligkeiten der Farb-Gehör-Assoziationen korrespondieren die Empfindungen Skrjabins und Rimski-Korsakow miteinander. Beide Komponisten nahmen in der Farbe nicht so sehr einzelne Töne wahr wie Tonarten. Dabei vor allem Dur-Tonarten. Für B-Tonarten erwiesen sich die kalten Farben (des blauen Teils des Farbspektrums) bei beiden vorherrschend, für die Kreuztonarten vor allem - die warmen Farben. Es gibt im übrigen auch einige Ausnahmen, hier ist nur von Tendenzen die Rede. Ich gehe davon aus, daß in der Farbtonarten-Wahrnehmung der Komponisten die Struktur der Klaviertastatur mit der Zentrallage C-Dur zum Ausdruck kommt. Man kann sich C-Dur als eine Supertonika eines Systems der tonartlichen Verwandtschaft vorstellen, in dem die übrigen Tonarten sich in einem größeren oder kleineren Abstand von C-Dur befinden. Die naheliegenden Tonarten befinden sich im Quintabstand, was der allergrößten akustischen Nähe der Töne im Intervall einer Quint entspricht (die allerkleinste Interferenz der Schallwellen entsteht bei gleichzeitigem Erklingen)[2]. Streng genommen, besteht die allergrößte Nähe zwischen den Tönen in der Oktave und nicht in der Quint, aber die Oktave ergibt keine neue Funktion. Als die einander nächsten Farben erwei­sen sich jene, die im Spektrum nebeneinander liegen. Stellen wir uns ein Spektrum aus 12 Farben vor, die der Quint-Kette von "des" bis "fis" wechselseitig eindeutig entsprechen (siehe Zeichnung 6 von unten nach oben). Diese Kette, komprimiert in die chromatische Tonleiter, siet folgend aus (siehe Zeichnung 7). 

Wenden wir die Aufmerksamkeit der Tatsache zu, daß C hier der grünen Farbe entspricht. Die aus der Psychologie bekann­te Eigenschaft der grünen Farbe ist, daß sie das Gefühl der Ruhe hervorruft. Genau dieselbe Eigenschaft hat die Haupttonika im Modulationsprozeß, und genau dieselbe Eigenschaft hat die Tonika in nichtmodulierender Periode. Indem wir die Tonarten zunächst als ihnen entsprechende Töne, sodann als relative Stufen ansehen, erhalten wir ein relatives Farb-Ton-System.  

Denkbar ist eine Kette nicht aus 12, sondern aus 22 ver­schiedenen Farben, die man ebenso in entsprechenden Diagrammen darstellen kann. Das Problem besteht nicht in der physischen Möglichkeit der Farbunterscheidung (diese ist real), sondern in der nationalen Kultur der Farbunterscheidung, die bei den Europäern bedeutend ärmer ist als, zum Beispiel, bei den Japanern (die Rede ist hier von gewöhnlichen Menschen, nicht von professionellen Malern). Im japanischen System der musikalischen Bildung könnte man sich das vollständige 22-Ton-Diagramm vorstellen, das in 22 verschiedenen Farben gemalt ist. In meiner Praxis benutze ich 12 Farben, und die sogenannten "komplementären Fahrstühle" stelle ich nur je nach Vereinbarung dar: die aufwärts führenden- als scharlachrote Farbe, die abwärts führenden - als violette. Nach einigen Jahren kontinuierli­chen Kontakts mit farbigen Darstellungen des musikalischen Tonhöhensystems treten bei Kindern das Farb-Gehör betreffend relative Assoziationen auf. Allen Dur-("Kreuz-")-Stufen ent­sprechen warme Farben, Moll-("B-")-Stufen - kalte. Alle Dur-Intervalle haben oben eine wärmere "Tonfarbe" als unten. Umgekehrt die Moll-Intervalle. Es gibt auch andere interes­sante Gesetzmäßigkeiten. Die Frage ist: Sind solche Assoziationen notwendig, führen sie nicht die Musikwahrnehmung weg von der Musik?

Das Phänomen der Synästhesie - die Assoziationen zwischen verschiedenen Gefühlsorganen - bezieht sich nicht nur auf die Verbindung zwischen Tönen und Farben. Die Idee des Guido von Arezzo über die Verbindung zwischen den Tönen und den verschiedenartigen Bereichen der Handfläche scheint auf den ersten Blick von rein zeichenhaftem Charakter. Jedoch ist nicht an dem. Die Zone der menschlichen Gehirnrinde, die für die Signale verantwortlich ist, welche von der Hand ins Gehirn geleitet werden, beschäftigt einen überproportional großen Teil der Bewegungszone des Gehirns. Außerdem ist aus der Theorie und der Praxis der chinesischen Akupunktur bekannt, daß es auf den Handflächen tatsächlich "Gehör-Punkte" gibt. So wie im Falle der "Guidonischen Hand" von einer Formierung bedingter Reflexverbindungen zwischen den Hör- und den Tastempfindungen die Rede ist. Zu einem ähnlichen Typus von Synästhesie gehören auch die Gesten von J.Curwen[3] (bekannter als die Gesten von Z. Kodàly), nur gibt es hier die Verbindung zwischen kinästhetischen (Bewegungs-) Empfindungen und Hörempfindungen. Und selbst die Idee des Solfeggierens mit konventionellen Silben verfolgt eben die­ses Ziel: die Verbindung zwischen Artikulations- (auch Bewegungs-) Empfindungen und Hör-Empfindungen herzustellen. Die Artikulationszone der menschlichen Gehirnrinde beschäf­tigt ebenfalls einen unverhältnismäßig großen Teil der Bewegungszone.[4] Was die Benennungen der Tonleiterstufen betrifft, so liegen dem von uns be­nutzten System die relativen Benennungen zugrunde, die von dem estnischen Pädagogen H. Kaljuste vorgeschlagen worden sind. Sie sind hervorgegangen aus do-re-mi-fa-sol-la-si (jo-le-vi-na-zo-ra-ti). Die Vokale blieben er­halten, die Konsonanten wurden ersetzt. Das ist gemacht worden, um Verwirrung zu vermeiden, denn in der UdSSR werden die Guidonischen Tonsilben als absolute Benennungen benutzt. A.Hundoegger folgend, beenden wir alle erhöhten Stufen auf "i", und alle vertieften Stufen auf "u"[5]. Eine einzige Kleinsekundverbundenheit im Guidonischen Hexacordsystem - "mi-fa" ("mi et fa sunt tota musica") - er­wies sich als auffallend perspektivreich. Hier kommt dem Meister aus Arezzo die Priorität zu. Der Hauptanteil an Information gelangt durch die visuellen Analysatoren zu uns, unter denen die Farbwahrnehmungen eine existentielle (in Besonderheit eine emotionale) Rolle spielen. Man fragt sich: Warum sollen wir auf die Bildung noch einer anderen Verbindung verzichten, die von eben dieser objektiven Gesetzmäßigkeit bestätigt worden ist? Die Idee einer beliebigen Assoziation beruht darauf, daß ein Teil des Gehirns von einem anderen unter­stützt wird. Welche Zonen des Gehirns gerade bei einem Kind als die leitenden anzusehen sind, kann man nicht im voraus sagen. Deshalb ist derjenige als der optimale Einfluß zu betrachten, der unverzüglich in mehreren Richtungen wirkt, unter denen die farbmusikalischen Assoziationen nicht nur als nützlich, sondern in bestimmten Fällen auch als grundlegend zu betrachten sind. 

Autorisierte Übersetzung aus dem Russischen von Verena Dohrn

Dieser Aufsatz wurde beim internationalen Symposium "Musikalische Früherziehung in Wien" am 15.-16. November 1991 in Wien zum ersten Mal der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und im Italienischen in „beQuadro“, Fiesole 1992, Nr. 48,  publiziert und bei der ISME Weltkonferenz in Tampa, USA (1994) präsentiert.


[1] A.S.Ogolevec.Osnovy garmoničeskogo jazyka (Grundlagen der harmoni­schen Sprache). Moskau-Leningrad 1941.

[2] Die ersten, die über die Abhängigkeit des Verschmelzungsgrads der Töne des Intervalls aus der Korrelation der Frequenzen geschrieben haben: C.Strumpf. Tonpsychologie. Bd.II. Leipzig, 1890. Helmholtz zählte die theoretischen Schwebungen aus, was in der Nachfolge experimentell bestä­tigt wurde: H.Helmholtz. Die Lehre von den Tonempfindungen. 5. Auflage. Berlin, 1896.

[3] J.Curwen. The standard course of lessons and exercises in the tonic sol-fa method of teaching music. London, 1858

[4] Über die Nähe zwischen Musik und Rede siehe: E.V. Nazajkinskij. Rečevoj opyt i muzikal'noe vosprijatie. - Estetičeskie očerki (Redeerfahrung und musika­lische Wahrnehmung. In: Ästhetische Skizzen). Moskau 1967

[5] A.Hundoegger. Leitfaden der Tonika Do-Lehre. Hannover, 1897